„Wie weich und fein“, sagte er, indem er es leise und vorsichtig ergriff. „Gerade wie seidener Samt, aber von der besten und allerteuersten Qualität. So ein Händchen ist doch etwas recht Wunderbares.“
„Wieso, Herr Schneeberg?“
„Es ist ein Meisterstück aus Gottes Hand und muß doch so viele irdische, dumme Arbeit vornehmen. Ein solches Händchen sollte immer ruhen dürfen. Es sollte nur da sein zum Entzücken dessen, der ein Recht darauf hat. Meinen Sie nicht auch?“
„Sie sprechen stets in einer Weise, daß es einem leid tut, das Geringste dagegen zu sagen.“
„Und Sie zeigen in Ihren nachsichtigen Worten eine Güte, über welche ich erröten möchte.“
Sie standen voreinander und blickten sich in die Augen, so offen, so treuherzig, so redlich, der hohe, starke Mann und sie, das liebliche, sonnige Mädchen. Sie betrachteten sich, als ob sie sich noch gar nicht gesehen hätten. Sie lächelten und sagten nichts dazu, bis Fritz endlich dachte, daß er nun doch wieder etwas reden müsse. Darum fragte er:
„Sind Sie nicht ermüdet, Mademoiselle Nanon?“
„Eigentlich nicht sehr, nur ein wenig.“
„Wollen Sie nicht die Güte haben, Platz zu nehmen?“
„Wieder auf den Kräutern? Ich werde Ihnen noch den Sack durchsitzen, und dann wird Ihr Doktor zanken.“
„Oh, haben Sie keine Sorge. Der zankt nicht mit mir.“
„Weil Sie so gut und treu sind.“
„O nein, sondern weil er meint, daß Zanken doch nichts helfen und bessern würde. Kommen Sie! Er ist so weich, und ich habe ihn so gelegt, daß er bequem ist wie ein vornehmer Thronsessel.“
Sie setzte sich auf den Kräutersack und meinte lächelnd:
„Sie werden mich gewiß noch ganz und gar verwöhnen.“
„Ich wollte, ich könnte das! Dann möchte ich den ganzen Tag und das ganze Jahr bei Ihnen sein, um Ihnen alles so sanft und weich wie möglich zu machen.“
„Ja, so sind Sie. Nur immer für andere sind Sie besorgt. Und wir anderen mißbrauchen das nur zu sehr.“
„Oh, mißbrauchen Sie das nur getrost“, lächelte er ganz glücklich. „Ich wollte, ich könnte Ihnen noch weit mehr dienen, als ich es vermag.“
„Wirklich? Meinen Sie das wirklich?“
„Gewiß! Wollen Sie das etwa nicht glauben?“
„Ich glaube es, denn ich weiß, daß Sie niemals die Unwahrheit sagen. Aber gerade weil Sie so gütig sind, habe ich gar nicht das Herz, eine Bitte auszusprechen, von der ich heute eigentlich reden wollte.“
Er blickte ihr so selig entgegen; er nickte ihr aufmunternd zu und sagte:
„Das ist es ja gerade, was ich wünsche. Ich wollte, Sie hätten alle Tage tausend Bitten, die ich gewähren könnte.“
„Das ist es ja eben. Ich weiß nicht, ob Sie imstande sind, mir die gegenwärtige zu gewähren.“
„Ist's denn gar so schwer? Versuchen Sie es doch einmal.“
„Schwer ist's nun gerade nicht; aber Zeit gehört dazu, und die wird Ihnen wohl nicht zur Verfügung stehen.“
„Warum nicht? Zeit habe ich stets.“
„Ja, für Ihr Geschäft, aber nicht für mich.“
„Für Sie am allermeisten. Doktor Bertrand läßt mich machen, was ich will. Also bitte, sagen Sie mir ja, womit ich Ihnen dienen kann.“
„Nun, so will ich es wagen. Ich muß Ihnen nämlich sagen, daß mein Vater gestorben ist.“
„Ihr Vater?“ fragte er erschrocken. „Herrgott, das ist ja ganz und gar traurig.“
„Allerdings, obgleich er nicht mein eigentlicher Vater, sondern nur mein Pflegevater, mein Vormund war.“
„So haben Sie keine rechten Eltern mehr, Mademoiselle?“
„Nein. Ich bin ein Waisenkind.“
„Geradeso wie ich.“
„Ja, geradeso wie Sie.“
Da ergriff er ihr Händchen, streichelte es, aber vorsichtig, um ihr ja nicht weh zu tun oder etwas an der Herrlichkeit dieses ‚Meisterstücks‘ zu verändern und sagte:
„Gott schütze Sie. Man sagt, daß ein jedes Kind einen Engel habe, ein Waisenkind aber drei, nämlich zwei anstelle des Vaters und der Mutter.“
„Das ist ein sehr lieber und schöner Glaube, aus dem man reichen Trost zu schöpfen vermag. Also mein Pflegevater ist gestorben und soll morgen beerdigt werden. Ich will hin, und auch meine Schwester kommt.“
„Eine Schwester haben Sie, eine Schwester?“
„Ja, ein gutes, heiteres, herziges Wesen. Ich habe ihr telegraphiert, und sie wird morgen auf dem Bahnhof sein. Dort empfange ich sie, und wir fahren weiter, nach Metz und von da nach Etain. Denken Sie sich, so weit wir zwei.“
„Ja, das ist nun freilich schlimm. Zwei Damen, so allein.“
„Zwar fürchte ich keine Gefahr; aber man weiß doch niemals, was geschehen kann. Denken Sie, damals auf der Mosel.“
„Ja, wer sollte meinen, daß man da Schiffbruch erleiden könne.“
„Und doch mußten Sie mich aus dem Wasser retten. Seit jener Zeit ist es mir, als ob ich nur dann sicher sein könne, wenn ich bei Ihnen bin. Darum kommt nun meine heutige Bitte, lieber Schneeberg – aber es fällt mir wirklich schwer, sie auszusprechen.“
Er lächelte ihr freundlich entgegen und sagte:
„Nun, da muß ich sie Ihnen leicht machen. Wissen Sie, was mich recht froh und glücklich machen könnte?“
„Nun, was?“
„Wenn ich Sie begleiten dürfte. Aber so eine Dame wie Sie wird sich mit so einem armen Kräutersammler nicht abgeben wollen. Nicht wahr?“
„Wo denken Sie hin? Das war es ja gerade, um was ich Sie bitten wollte.“
„Wirklich? Dann hätten sich unsere Wünsche ja recht schön begegnet!“
„So wie immer. Aber werden Sie denn auch Zeit haben?“
„So viel Sie wünschen. Ich werde es meinem Herrn melden, und dann wird alles abgemacht sein.“
„Gut. Werden Sie mit dem Vormittagszug fahren können?“
„Das versteht sich ganz von selbst.“
„So treffen wir uns auf dem Bahnhof. Wie freue ich mich, meine Schwester wieder zu sehen! Es sind Jahre vergangen, seit wir uns trennten. Wissen Sie, daß ich ihr von Ihnen geschrieben habe, von Ihnen und dem Löwenzahn? Ich dachte, sie könne sich erkundigen; sie wohnt in Berlin.“
Er horchte auf.
„In Berlin?“ fragte er. „Ist sie da verheiratet?“
„O nein; sie ist Gesellschafterin gerade wie ich. Es geht ihr sehr gut. Ihre Herrin ist eine Gräfin von Hohenthal.“
„Von Hohen – Hohenthal?“ fragte er, indem er Mühe hatte, seinen Schreck zu verbergen.
„Ja. Ihr Sohn ist Husarenrittmeister.“
„So, so! Darf ich ihren Namen wissen?“
„Madelon heißt sie. Also Sie kommen gewiß?“
„Ganz gewiß.“
„Dann will ich wieder gehen. Marion wird mich erwarten.“
Sie erhob sich und reichte ihm die Hand.
„Wollen Sie allein gehen?“ fragte er.
„Ja. Ich nehme morgen so viel von Ihrer Zeit in Anspruch, daß ich Sie nicht auch noch heute berauben will. Leben Sie wohl, mein bester Herr Schneeberg!“
„Adieu, Fräulein Nanon!“
Sie trennten sich; sie ging, und er blieb zurück. Als sie sich entfernt hatte, schüttelte er den Kopf und sagte:
„Na, na, was soll daraus werden! Hohenthals Madelon ist ihre Schwester! Die kennt mich ganz genau; sie wird gleich ahnen, weshalb wir uns hier befinden. Was ist da zu tun? Es wird am besten sein, ich frage den Herrn Rittmei – wollte sagen, den Herrn Doktor Müller. Was der sagt, das wird gemacht. Auf mich allein kann ich es nicht nehmen.“
Er nahm seinen Sack auf die Achsel und schritt davon. Er war allerdings keineswegs wirklich verpflichtet, für Doktor Bertrand Pflanzen zu sammeln; oft aber, wenn es seine eigenartigen Geschäfte zuließen, brachte er offizielle Kräuter mit heim. Auch heute sagte er sich, daß er Muße zum Sammeln solcher Tees habe, und so verweilte er noch längere Zeit in Wald und Feld. Es war bereits weit über Mittag, als er mit den Ergebnissen seines Botanisierens nach Thionville kam. Er begab sich, als er dieselben abgeliefert hatte, nach dem Gasthof, in welchem damals die Seiltänzer logiert hatten und in dessen kleinem Zimmer er den Auftritt mit dem nachher verunglückten Mädchen erlebt hatte.