„Wenn sich das Dokument nun fände?“ fragte der Maler.
Der Alte zog den Kopf zurück, blickte den Fragenden mißtrauisch an und sagte heftig:
„Warum fragen Sie? Was geht es Sie an, was ich tun will, wenn das Schreiben sich findet? Sollte ich mich doch irren? Sollten Sie doch ein Spion sein?“
„Unsinn! Ich bin Ihr Freund und Diener! Weiter nichts!“
„So fragen Sie auch nicht! An das Dokument denke ich jetzt nicht. Es mag verborgen bleiben; ja, es soll und darf gerade jetzt sich nicht finden. Es würde mich irre machen. Ich würde vielleicht etwas tun, was ich nicht tun soll! Fragen Sie nicht danach, sondern fragen Sie lieber, was das andere ist, was ich für Sie zu tun habe!“
„Nun, so will ich fragen!“
„Können Sie reisen?“
„Natürlich!“
„Ja, ich entsinne mich. Sie sind bereits viel gereist.“
„Ich bin ja erst gestern wieder von einem Ausflug zurückgekommen!“
Der Alte blickte ihn wie abwesend an, nickte langsam mit dem Kopf und meinte:
„Ja, mir ist so, als ob ich davon gehört hätte, daß Sie abwesend waren. Aber zum Reisen gehört zuweilen mehr, als man denkt. Es gibt Zufälle, Hindernisse und Störungen, auf welche man nicht vorbereitet ist. Da gilt es, stets und sogleich das Richtige zu tun und zu finden. Sind Sie erfahren?“
„Ich denke es.“
„Und geistesgegenwärtig?“
„Das habe ich bei meinem letzten Ausflug sogar dreimal höchst eklatant bewiesen.“
„Das ist mir lieb! Ich brauche einen entschlossenen, geistesgegenwärtigen Mann, der zu reisen versteht. Aber noch eins: Sind Sie vielleicht des Französischen mächtig?“
„Ja. Wir haben uns doch in dieser Sprache sehr oft unterhalten.“
„Möglich! Ich kann mich nicht darauf besinnen. Und nun die letzte Frage: Haben Sie jetzt Zeit?“
„Eigentlich nicht.“
„Was haben Sie vor?“
„Ich habe notwendige Skizzen auszuführen.“
„Dazu ist später Zeit.“
„Aber ich muß leben; ich muß essen und trinken, und wenn ich nicht arbeite, so verdiene ich nichts!“
„Ich werde Sie bezahlen, sehr gut bezahlen!“
„Es scheint sich um eine Reise zu handeln, welche ich für Sie unternehmen soll?“
„Ja.“
„Nach Frankreich?“
„Ja.“
„Da weiß ich doch nicht, ob ich Ihnen dienen kann!“
„Warum nicht! Den Ausfall am Verdienste ersetze ich ja.“
„Oh, ich habe noch anderes vor als meine Skizzen!“
„Was?“
„Hm!“ brummte der Dicke, einigermaßen verlegen.
„Hm ist keine Antwort! Ich will wissen, was Sie vorhaben!“
„Nun, ich habe gerade jetzt Veranlassung, mich mit einer jungen Dame zu beschäftigen.“
„Was ist sie?“
„Gouvernante.“
Da sprühten die Blicke des Alten wieder auf. Er richtete das Auge forschend auf den Maler und fragte:
„Eine Gouvernante? Eine Gesellschafterin vielleicht? Nur eine?“
„Ja.“
„Es sind nicht zwei?“
„Nein.“
„Sie befindet sich hier in Berlin?“
„Ja.“
„Auf welcher Straße?“
„Auf der unserigen.“
Da ballte der Irre die beiden Fäuste, trat hart an ihn heran und fragte in drohendem Ton:
„Hat sie eine Schwester in Frankreich?“
„Das weiß ich nicht.“
„Das wissen Sie! Das müssen Sie wissen! Wie ist ihr Vorname?“
„Emma.“
„Emma? Ah! Nicht Madelon?“
„Nein.“
Bei dieser Frage des Alten wurde der Maler doch stutzig. Hallers Vermutungen scheinen also doch das Richtige zu treffen.
„Dient sie in der Familie eines Offiziers?“ fragte Untersberg weiter.
„Allerdings!“
„Mille tonnerres! Wer ist dieser Offizier? Etwa der Graf von Hohenthal, der ja in unserer Straße wohnt?“
„Nein. Es ist der General von Goldberg.“
Da ließ der Alte die bereits erhobenen Fäuste wieder sinken. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und sagte:
„Ah! Bereits glaubte ich, auch Ihnen nicht mehr trauen zu dürfen. Was haben Sie denn mit dem Mädchen, der Gouvernante?“
„Was soll ich mit ihr haben! Ich liebe sie.“
„Sie lieben sie? O weh! Und Sie wollen sie heiraten?“
„Ja.“
„Ist sie reich?“
„Wohl nicht.“
„Schön?“
„Wie ein Engel!“
„Und sie spricht, daß sie Ihre Liebe erwidert?“
„Sie liebt mich geradezu zum Rasendwerden!“
„Ja, das glaube ich. Ein jeder Mann, der das Unglück hat, von so einem Geschöpf geliebt zu werden, wird später verrückt und rasend, oder er geht dem Vater davon, er geht durch, in die weite Welt, so daß er nicht wiedergefunden werden kann. Lassen Sie das Mädchen sein!“
„Hm! Will es mir erst noch überlegen!“
„Und wegen ihr glauben Sie, Berlin nicht verlassen zu dürfen?“
„Freilich doch! Die Liebe muß man kultivieren und frequentieren, sonst geht sie aus dem Leim und wird zu Wasser.“
„Lassen Sie sie getrost zu Wasser werden!“
„Aber, die Liebe macht glücklich, macht selig! Die Liebe macht den Bettler zum König!“
„Unsinn, nichts als Unsinn! Die Liebe macht die Könige zu Bettlern, sie macht elend und unglücklich! Hat diese Gouvernante eine feste, sichere Stellung?“
„Ja.“
„Nun, so wird sie Ihnen nicht davonlaufen, wenn Sie sich für eine kurze Zeit entfernen.“
„Wie lange würde ich abwesend sein?“
„Vielleicht eine Woche.“
„Na, das wäre gerade keine Ewigkeit!“
„Und ich gebe Ihnen fünfzehnhundert Franken Reisegeld.“
„Alle Teufel! Das ist ein schöner Tropfen!“
„Nicht wahr? Und was Sie übrigbehalten, das gehört Ihnen.“
„Das ist noch besser! Wohin soll ich denn? Etwa nach Paris?“
„Nein. Vor einer halben Stunde empfing ich eine Depesche, welche mich eigentlich veranlaßt, die Reise selbst zu unternehmen. Aber ich bin alt und morsch; ich würde diese Anstrengungen wohl nicht aushalten. Darum bin ich gezwungen, einen Stellvertreter zu senden. Sie sind der einzige Mensch, zu dem ich Vertrauen habe, und Sie sind es daher, den ich schicken will.“
„Ich werde Ihr Vertrauen sicherlich nicht mißbrauchen!“
„Das brauchen Sie mir gar nicht zu sagen“, meinte der Alte in bereits wieder heftigerem Ton. „Glauben Sie, daß ich dumm bin? Glauben Sie, daß ich mich täuschen und betrügen lasse? Glauben Sie, daß ich meinem Boten mehr mitteile, als er unumgänglich wissen muß?“
„Das steht natürlich ganz in Ihrem Belieben!“
„Sie sollen mir nicht immer mit Worten kommen, welche mich doch noch an Ihnen zweifeln lassen. Hier, lesen Sie dieses Telegramm!“
Er trat an den Tisch und nahm die Depesche zur Hand, welche er dem Dicken hinreichte. Dieser las:
„Ich melde Ihnen, daß soeben mein Vater gestorben ist. Er befahl dies noch im Sterben. Charles Berteu.“
„Nun?“ fragte der Alte.
„Was?“
„Was sagen Sie dazu?“
„Das einer gestorben ist?“
„Wer aber?“
„Der alte Berteu.“
„Der alte Berteu, sagen Sie?“ fragte der Irre rasch und mit wieder neu erwachendem Mißtrauen. „Sie kennen ihn etwa?“
„Keine Spur!“
„Aber es klang ja so! Wie können Sie vom alten Berteu sprechen, wenn Sie ihn nicht kennen?“
„Es steht ja hier!“
„Das ist nicht wahr!“
„Doch! Wenn der Sohn meldet, daß der Vater tot sei, so ist ja wohl der Alte gestorben, nicht aber der Junge.“
„Ach so! Ich wiederhole, Sie sollen nicht immer Worte bringen, welche mich an Ihnen zweifeln lassen! Ahnen Sie nun, was Ihre Aufgabe sein wird?“