„Vielleicht soll ich den jungen Berteu aufsuchen?“
„Ja. Weiter?“
„Und fragen, woran sein Vater gestorben ist, ob an den Tuberkeln oder an der Rachenbräune?“
„Nein. Woran er gestorben ist, das ist mir ganz gleichgültig. Mag er sich erhängt oder ersäuft haben, das geht mich ganz und gar nichts an. Haben Sie vielleicht einige Anlage zum Kriminalisten?“
„Ja.“
„Zum Polizisten?“
„Ungeheuer! Das wird allgemein anerkannt!“
„So! Sie sind wohl etwa gar ein ‚Heimlicher‘?“
„Fällt mir gar nicht ein. Wie könnte meine Geschicklichkeit denn da allgemein, also öffentlich anerkannt werden!“
„Ach so! Aber nach Ihren Worten zu schließen, haben Sie bereits Polizeidienste geleistet?“
„Auch nicht.“
„Aber woher diese Anerkennung?“
„Sehen Sie, ich habe in gesellschaftlicher Beziehung so einen Pfiff, ein Chic, eine Tournure, einen Scharfsinn und Scharfblick, daß alle Welt sagt, daß eigentlich mein Fach das Polizeifach wäre. Das ist die Sache!“
„Schön! Ich bin abermals beruhigt. Sie getrauen sich also, irgend eine verborgene Tatsache zu erforschen?“
„Ich und die Sonne, wir beide bringen alles an den Tag.“
„Sie sollen mir dieses verdammte Sprichwort nicht bringen! Was meinen Sie mit Ihrer Sonne? Denken Sie etwa, daß Sie auch bei mir etwas an den Tag bringen werden?“
„Ganz und gar nicht.“
„So lassen Sie diese Redensarten. Ich werde Ihnen jetzt Ihre Instruktion geben. Der verstorbene Berteu nämlich hatte zwei Pflegetöchter –“
„Hübsche Mädels wohl?“
„Unsinn. Niemand wußte, wer der Vater dieser beiden war.“
„Das kommt zuweilen vor. Na, wenn ihn nur die Mutter kennt!“
„Die eine heißt Nanon und die andere Madelon.“
„Werde mir's merken!“
„Die erstere ist blond und die letztere schwarz.“
„Eigentümliches Naturspiel. Vielleicht hat die erstere als Kind nur Milch und die letztere nur Kaffee getrunken.“
„Lassen Sie diese Scherze. Diese Mädchen sind Gesellschafterinnen geworden.“
„Wo?“
„Das geht Sie den Teufel an. Sie haben übrigens nicht zu fragen, sondern nur zuzuhören. Der Alte, nämlich der Pflegevater, hat natürlich das Geheimnis ihrer Abstammung gekannt. Nun will ich wissen, ob er es vor seinem Tod ausgeplaudert hat.“
Der Maler merkte natürlich, um was es sich handelte. Dieser verrückte Mann war der Großvater der beiden Mädchen. Er hatte unrecht an ihnen gehandelt, und nun fürchtete er sich. Sein Gewissen ließ ihm keine Ruhe. Aber erwähnen durfte der Dicke kein Wort; das sah er ein. Daher fragte er:
„Ich soll also hin, um vom Sohn zu erfahren, ob sein Vater aus der Schule geschwatzt hat?“
„Ja. Getrauen Sie sich dies?“
„Natürlich. Ich bin überzeugt, daß es mir gelingen wird.“
„Wieso?“
„Man rühmt mir nach, daß ich ein großer Menschenkenner bin. Wenn ich den jungen Berteu sehe, werde ich sofort bemerken und wissen, wie ich ihn zu nehmen habe.“
„Gut, das ist das einzige, das richtige. Sie werden sich in sein Vertrauen einschleichen.“
„Ja, ganz unbemerkt und leise.“
„Und ihm alles abfragen?“
„Alles.“
„Sie werden auch bei seiner Umgebung horchen?“
„Ich werde alle Ohren spitzen.“
„Unsinn. Sie haben deren nur zwei.“
„Ich werde ihm aber keineswegs ahnen lassen, was ich beabsichtige.“
„Das wäre der größte Fehler, den Sie begehen können.“
„Ich werde ihm nicht einmal meinen wirklichen Namen nennen.“
„Gut. Ich sehe, daß Sie der Rechte sind.“
„Auch daß ich aus Berlin bin, darf er nicht wissen?“
„Ganz und gar nicht.“
„Oder daß Sie mich gesandt haben?“
„Wenn Sie das verraten, so drehe ich Ihnen das Gesicht auf den Rücken.“
„Donnerwetter. Dann wäre es mit dem Malen aus; Sie müßten denn auch gleich den Bau mitsamt den Armen und Händen nach hinten drehen.“
„Schweigen Sie! Was ich sage, das halte ich, wenn Sie nicht verschwiegen sind. Kennen Sie die Route, welche Sie einzuhalten haben?“
„Nein. Ich weiß ja noch nicht einmal, wohin ich reisen soll.“
„Nach Schloß Malineau.“
„Das kenne ich nicht.“
„Es liegt in der Gegend von Etain.“
„Kenne es auch nicht.“
„Zwischen Metz und – oder, das ist sicherer, im Nordosten von Verdun. Ich habe nachgeschlagen und Ihnen die Route aufgezeichnet. Hier ist das Papier.“
Er nahm einen Zettel vom Tisch und übergab ihm denselben. Der Maler las die Namen, nickte und sagte:
„Schön. Wird alles bestens besorgt.“
„Sie reisen aber sofort.“
„Ah. Heute schon?“
„Natürlich. Die Sache eilt. Um ein Uhr geht der Zug.“
„Mittags ein Uhr. Sapperlot! Da bin ich ja der reine Eilbote, der reine Schnelläufer.“
„Es muß so sein.“
„Welche Klasse fahre ich?“
„Das ist Ihre Sache. Ich empfehle Ihnen, zweite zu fahren, weil man in der dritten während einer so langen Reise zu sehr ermüdet. Ich wußte, daß Sie kommen würden und habe alles vorbereitet. Auch das Geld ist bereits gezählt und eingepackt. Hier, nehmen Sie!“
Er nahm ein Portefeuille vom Tisch und gab es ihm. Der Dicke schob es schleunigst in die Tasche und sagte:
„Das ist das Nötigste! Also fünfzehnhundert Franken!“
„Ja, vielleicht noch etwas darüber, zur Aufmunterung für Sie. Also ich darf mich auf Sie verlassen?“
„Wie auf mich selbst.“
„Auf mich, meinen Sie wohl.“
„Wen ich meine, das ist ganz gleichgültig. Wir beide können einander trauen.“
„Ich hoffe das! Sie werden aber jedenfalls nicht eher zurückkehren, als bis Sie den Auftrag ausgerichtet haben.“
„Natürlich. Ich gehe nicht eher fort, als bis ich weiß, ob der Verstorbene das Geheimnis ausgeplaudert hat oder nicht. Haben Sie vielleicht noch etwas zu bemerken?“
„Nein. Sie können gehen.“
„Leben Sie also wohl.“
„Adieu. Und vergessen Sie nicht. Das Gesicht auf den Rücken.“
„Und den Bauch dazu!“
Der Alte schloß hinter ihm die Tür wieder zu und setzte sich dann an den Tisch, um stundenlang das Telegramm anzustarren. Der Maler aber hatte kaum den Hausflur erreicht, so zog er das Portefeuille hervor und öffnete es.
„Alle Wetter!“ sagte er überrascht. „Fünfzehnhundert Taler. Juchhei. Das laß ich mir gefallen. Jetzt kaufe ich mir schnell einen feinen Anzug nebst dito Wäsche und einen Reisekoffer, dessen sich kein Graf zu schämen braucht. Die Welt sehen, nach Frankreich reisen, ohne daß es mich einen Pfennig kostet. Ah, ich durchschaue den alten Halunken. Er hat zwar das Frauenporträt nebst den Skripturen wieder; da er aber nicht weiß, wo sie stecken, so sind sie mir sicher.“ –
Emma von Königsau hatte bei Madelon vergebens geklingelt. Da sie annehmen durfte, daß die Gesuchte sich bei der Beamtenwitwe befinden werde, so ging sie eine Treppe höher, wo sie ihre Vermutung auch bestätigt fand.
Madelon ebenso wie die Witwe hatten Freude, die Freundin wiederzusehen. Natürlich wurde alles besprochen, was während der Trennung passiert war, und dabei bemerkte die Witwe:
„Wundern Sie sich nicht, wenn heute vielleicht ein Herr an unserer Unterhaltung teilnimmt.“
„Sie meinen Ihren Herrn Sohn?“
„Nein, sondern meinen neuen Zimmerherrn.“
„Ah, so haben Sie vermietet?“
„Ja, seit gestern, und wie es scheint, recht glücklich.“
„Was ist der Herr?“
„Ein Künstler.“
„Schauspieler, Schriftsteller?“
„Nein, Maler.“
„So, so! Ich liebe diese Klasse von Menschen gerade nicht sehr.“