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„Also darum fragte er so angelegentlich nach Ihnen!“

„Ja, darum.“

„Und ich soll ihn trotzdem bei mir wohnen lassen?“

„Unbedingt. Ich selbst werde ihn zu uns einladen.“

„Aber das ist ja gefährlich.“

„Wieso?“

„Er will ja spionieren.“

„Sie sind kostbar, meine Liebe. Wir werden ihn spionieren lassen und ihm von allem gerade das Gegenteil sagen. Verstehen Sie mich?“

„Ah, jetzt begreife ich. Er wird dadurch getäuscht.“

„Natürlich.“

„Er wird nach Paris berichten und folglich auch Napoleon irreleiten.“

„Das beabsichtigen wir. Auf diese Weise ziehen wir ihm die Trümpfe aus der Karte und bekommen sie in unsere Hand.“

„Aber die Behörde? Was wird sie von mir denken?“

„Sie ist von allem unterrichtet und wird, sobald er sich anmeldet, wissen, wo sie ihn zu suchen und zu überwachen hat. Das ist weit besser, als wenn er im Verborgenen arbeitet. Wenn Sie klug sind und ihn hier behalten, so wird man das gern anerkennen.“

„Aber wenn er mich aushorcht.“

„Sie können ihm doch nichts sagen!“

„Das ist wahr. Aber etwas muß ich doch sagen.“

„Nun, sagen Sie nur immer, daß wir Angst vor Frankreich haben, daß wir mit den Süddeutschen uneinig sind, daß der Russe und der Engländer uns hassen, und daß der Österreicher uns wegen Anno Sechsundsechzig auch nicht wohlwill. Unsere Soldaten fürchten sich vor dem Krieg; unsere Offiziere sind ganz und gar gegen einen solchen; unser Pulver taugt nichts; die französischen Chassepots schießen sicherer und weiter als unsere Zündnadelgewehre, und gegen die Mitrailleuse gibt es nun ganz und gar kein Aufkommen. Ist das genug?“

Die beiden anderen sahen Emma verwundert an.

„Das ist ja eine ganze, lange Litanei!“ sagte die Wirtin. „Also Sie meinen wirklich, daß ich ihn behalten soll?“

„Ja. Ich bin sogar überzeugt, daß Sie von den Behörden einen Wink über Ihr Verhalten bekommen werden.“

„Nun, so will ich es wagen, zumal Sie versichern, daß er in Ihre Familie Zutritt finden wird. Was Sie tun, darf ich auch wagen.“

„Wagen Sie es immerhin. Er wird bei uns sogar als Hausfreund behandelt werden. Aber meine liebe Madelon, jetzt erst fällt mir Ihre Kleidung auf. Sie sind ja wie zur Reise angekleidet!“

„Ich verreise allerdings. Der Gegenstand unseres Gesprächs war bisher so hochinteressant, daß ich noch gar nichts anderes sagen konnte.“

„Wohin wollen Sie gehen? Doch nicht weit?“

„Sogar sehr weit, nämlich nach Frankreich.“

Emma machte eine Bewegung des Erstaunens und fragte:

„Nach Frankreich? Und gerade jetzt? So plötzlich? Warum?“

„Meine Schwester telegrafierte, daß unser Pflegevater gestorben ist. Ich habe die Pflicht, an seinem Grab zu sein.“

„Ihre Schwester in Ortry?“

„Ja, sie ist mit Fräulein von Sainte-Marie von ihrer Reise dorthin zurückgekehrt.“

„Wohnte Ihr Pflegevater nicht bei Etain?“

„Ja, auf Schloß Malineau.“

„Welch eine lange, weite Reise. Wer begleitet Sie?“

„Niemand.“

„Dann sind Sie höchst mutig. Weiß die Frau Gräfin Hohenthal davon?“

„Ich habe es ihr natürlich brieflich gemeldet.“

„Wie schade. Zunächst kondoliere ich natürlich; sodann aber muß ich Ihre Abreise herzlich bedauern. Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, Sie nach meiner Wiederkehr recht oft zu sehen!“

„Meine Abwesenheit wird nicht lange dauern.“

„Nun, so muß ich mich zu fassen suchen. Eins freut mich aber doch dabei, nämlich, daß Sie das Glück haben werden, Ihre Schwester zu sehen.“

„Es sind allerdings Jahre, daß wir voneinander schieden, und ihre Briefe sind so sehr kurz.“

„Sie schreibt aber doch oft?“

„Nicht zu sehr. Der letzte Brief war ausnahmsweise einmal hochinteressant. Er handelt von einem Menschen, dessen Schicksal ganz und gar den unserigen gleicht.“

„Darf ich neugierig sein?“

„Warum nicht. Es handelt sich nämlich um einen armen Kräutersammler aus Thionville.“

Emma wurde aufmerksamer. Sie wußte ja, daß der brave Fritz als Kräutersammler engagiert war, und zwar gerade in Thionville.

„Das beginnt sehr romantisch!“ sagte sie.

„Es ist auch wirklich romantisch. Der arme Teufel hat keine Eltern; er ist ein Findelkind. Er wurde als Knabe im Schnee gefunden, und darum Schneeberg genannt.“

Jetzt wußte Emma genau, daß von Fritz die Rede war.

„Ihre Schwester scheint sich aus diesem Grund für ihn zu interessieren?“

„Sogar sehr; sie ist ja selbst, ebenso wie ich, eine elternlose Waise! Kürzlich nun hat sie mit ihm gesprochen und von ihm gehört, daß er ein Erkennungszeichen bei sich trägt, durch welches es möglich wäre, seine Eltern zu finden.“

„Eben dieser Schneeberg?“

„Ja. Nanon nun hat einst in Paris von einer Dame gehört, welcher zwei Knaben, Zwillingsbrüder, geraubt worden sind, und die Knaben haben ganz dasselbe Zeichen an sich getragen, welches Schneeberg besitzt.“

„Zwillingsbrüder? Wer war diese Dame?“

„Nanon hat leider den Namen vergessen, und die Freundin in Paris, welche ihr Auskunft geben könnte, ist nach Italien gereist. Die Schwester glaubt sich zu besinnen, daß diese Dame eine Deutsche gewesen sei. In diesem Fall ließe sich vielleicht hier in Berlin etwas erfahren. Darum schreibt mir Nanon, mich doch zu erkundigen, ob es hier nicht eine Familie gebe, welcher vor nun mehr als zwanzig Jahren ein Zwillingsknabenpaar gestohlen worden ist.“

Mit dem Gesicht Emmas war eine außerordentliche Veränderung vor sich gegangen. Es hatte den Ausdruck der allergrößten Spannung angenommen.

„Schreibt Nanon nichts weiter von der Dame?“ fragte sie.

„Nichts, als daß sie den schweren Verlust nach so langer Zeit nicht verschmerzt habe, da sie stets in tiefer Trauer gehe.“

„Gott. Und worin besteht das Erkennungszeichen?“

„Aus einem Löwenzahn an einer feinen, goldenen Kette.“

Da sprang Emma vom Stuhl auf und rief:

„Weiter, weiter! Wie ist der Zahn beschaffen?“

„Er ist hohl. Wenn man die Grafenkrone, welche am unteren Ende befestigt ist, abschraubt, kommen die Miniaturgemälde eines Herrn und einer Dame zum Vorschein.“

„Er ist's! Er ist's! Es ist der Zahn!“ rief Emma, indem sie im höchsten Entzücken die Hände zusammenschlug.

Die beiden anderen sahen sie erstaunt an.

„Wissen Sie auch etwas von diesem Zahn?“ fragte Madelon.

„Natürlich, natürlich. Mehr als Sie denken und ahnen. Habe ich Ihnen denn noch nicht von ihm erzählt?“

„Kein Wort.“

„Und von Tante Goldberg?“

„Hierüber noch nichts.“

„Daß Tante stets in Trauer geht.“

„Das weiß ich; aber den Grund kenne ich nicht.“

„Nun, sie hat vor mehr als zwanzig Jahren zwei Knaben, welche Zwillinge waren, verloren. Die Knaben waren verschwunden, und alle Nachforschungen sind vergebens gewesen; selbst hohe Belohnungen, welche der Onkel ausgeschrieben hat, haben nichts gefruchtet.“

„Ist das wahr? Ist das wahr?“

„Warum sollte ich es erfinden!“

„Und Frau von Goldberg ist in Paris gewesen?“

„Sogar sehr oft.“

„So ist sie es, so ist sie es. Die Mutter ist gefunden. Oh, Emma, lassen Sie sich umarmen.“

Sie flog in die geöffneten Arme der Freundin. Die beiden Mädchen küßten sich herzlich, und die Witwe weinte vor Rührung.

„Wie wird Nanon sich freuen, wenn ich ihr persönlich diese Kunde bringe!“ rief Madelon jubelnd. „Und Sie, Sie müssen sofort zu Ihrer Tante eilen, um ihr die frohe Botschaft zu bringen. Ich gebe Ihnen den Brief meiner Schwester mit, damit sie ihn lesen kann. Ich laufe, ihn zu holen!“