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Das Mädchen war ganz Glück und Jubel. Sie wollte das Zimmer verlassen. Die ältere und bedachtsame Emma aber hielt sie zurück.

„Warten Sie noch!“ bat sie. „Diese Sache ist zu wichtig, als daß man zu eilig handeln sollte. Die Trauer der Tante um die Verlorenen ist mit den Jahren eine ruhigere geworden. Wenn wir uns irrten, wenn hier eine Täuschung vorläge, denken Sie, wie wir ihrem Herzen schaden würden. Überlegen wir lieber vorher. Also Schneeberg ist wirklich derjenige, welcher den Zahn besitzt?“

„Ja.“

„Wissen Sie, für wen er Kräuter sammelt?“

„Warum fragen Sie?“

„Weil ich meine Gründe habe. Bitte, antworten Sie!“

„Er steht im Dienst eines Doktor Bertrand in Thionville.“

„Mein Gott, welch ein Zusammentreffen! Wir haben ihn so lange gekannt, ohne zu ahnen, daß er im Besitz dieses Zahns ist!“

„Wie? Sie haben ihn gekannt?“

„Sie auch!“

„Was? Wie? Wirklich? Ich wüßte nicht! Ich kenne keinen Menschen namens Schneeberg! Wo soll ich ihn denn gesehen haben?“

„Hier in Berlin. Er ist erst seit ganz kurzer Zeit in Thionville. Ein Wort von mir würde Sie sofort aufklären, aber ich darf dieses Wort nicht sprechen. Sagen Sie mir, ob Schneeberg zu Ihrer Schwester keinen Bruder erwähnt hat?“

„Er hat nie einen Bruder gekannt.“

„Ist es der rechte Zahn oder der linke?“

„Der rechte Reißzahn eines Löwen, schreibt mir Nanon.“

„Sind denn keine Buchstaben vorhanden?“

„Davon schreibt mir die Schwester leider kein Wort. Darum denke ich, daß es keine gibt.“

„Nun will ich Ihnen sagen, daß Onkel Goldberg in Algerien einen Löwen geschossen hat. Nach arabischer Sitte hat er ihm die Reißzähne ausgebrochen und sie seinen beiden Zwillingsknaben später an einer Kette um den Hals gehängt. Die Knaben wurden geraubt. Wir glaubten sie bisher tot; nun aber taucht neue Hoffnung auf.“

„Mir ahnt, daß dieser Schneeberg einer der Knaben ist.“

„Es könnte möglich sein. Aber ebenso ist es auch möglich, daß die Zähne in die Hände anderer Kinder geraten sind. Wann reisen Sie ab?“

„Mit dem Einuhrzug.“

„Da haben wir noch Zeit. Wollen Sie mit mir gehen, um dem Großpapa zu erzählen, was Sie mir berichtet haben?“

„Gern, natürlich, sehr gern. Und soll ich den Brief mitnehmen?“

„Ich bitte darum!“

„Wir wollen ihn holen. Kommen Sie schnell!“

Sie standen schon im Begriff, sich eiligst von der Witwe zu verabschieden, als die Tür sich öffnete und Haller eintrat. Er erblickte Emma; eine leise, feine Röte trat ihm auf die Wange; sonst war aber kein Zeichen der Überraschung, der Verlegenheit oder gar des Schreckes an ihm zu bemerken.

„Ich habe mich Emma König genannt“, flüsterte Emma schnell und unbemerkt der Freundin zu.

Diese verstand, daß sie nur die Hälfte ihres Namens genannt habe und wendete sich mit freundlicher Miene zu dem Eingetretenen:

„Bereits wieder zurück? Ich dachte, Sie würden, um Berlin zu sehen, Ihrem Spaziergang eine längere Dauer geben.“

„Die Stadt kann ich mir ja später betrachten“, antwortete er lächelnd; „von Ihnen aber hörte ich, daß Sie im Begriff stehen, zu verreisen.“

„Da bin ich es etwa, welcher man Ihre schnelle Rückkehr zu verdanken hat?“ fragte sie mit einer Betonung, welche doch ein wenig Ironie anzudeuten schien.

„Ich kam, um Gelegenheit zu finden, Ihnen eine gute Reise und glückliche Wiederkehr zu wünschen“, antwortete er ernst.

Man hörte es ihm an, daß er die Ironie herausgehört habe und durch seinen Ernst zurückweisen wolle; sie fuhr fort:

„Das ist wirklich freundlich von Ihnen! Erlauben Sie mir, sie einander vorzustellen. Herr Maler Haller – Emma König, meine Freundin!“

Er verbeugte sich vor der Genannten mit der unbefangensten Miene von der Welt und sagte:

„Ich beneide Sie in diesem Augenblick, daß Sie eine Dame sind, Fräulein König.“

„Glauben Sie, daß dieser zufällige Umstand ein triftiger Grund sei, mich zu beneiden?“ fragte sie.

„Gewiß. Wäre ich eine Dame, so hätte ich wohl auch die Erlaubnis, nach der Freundschaft von Fräulein Köhler zu streben.“

„Halten Sie meine Freundschaft für so wertvoll?“ fragte Madelon.

„Gewiß.“

„Darf ich nach dem Grund fragen?“

„Ich antworte Ihnen mit Heinrich Heines Worten: ‚Frag', was er strahle, den Karfunkelstein. Frag', was sie duften, Nachtviol' und Rosen!‘ Wer kann sagen, warum die Blüte duftet? Wer kann erklären, warum man den einen liebt und den anderen haßt?“

„Das ist wahr“, lachte Madelon. „Auch mir ist der Haß, den ich gegen Sie hege, unerklärlich.“

„Sie erschrecken mich!“

„Sie zittern doch nicht?“

„Nein, aber ich bin erstarrt!“

„Sie sehen mir nicht so aus wie ein furchtsamer Mann. Ein Herr Ihres Gewerbes darf den Schreck nicht kennen.“

Seine Wangen wurden doch ein wenig bleicher als vorher. Was meinte sie? Sie konnte doch unmöglich wissen, welche Absicht ihn nach Berlin geführt hatte. Er antwortete:

„Ich hege im Gegenteil die Ansicht, daß mein ‚Gewerbe‘“ – und dieses Wort, welches ihn verletzt hatte, betonte er deutlich – „mich fast nur mit den Lichtseiten des Lebens zusammenführt. Dadurch wird man verzogen; eine Übung des Mutes gibt es da nicht.“

„Oh, im Gegenteil! Der Künstler, also auch der Maler, ist, wenn er vielseitig werden will, gezwungen, auch in die Kloaken der Gesellschaft hinabzusteigen. Wo Licht ist, da ist auch Schatten. Sie haben beides kunstgerecht zu verteilen und müssen es also auch mit den Schatten des Lebens aufzunehmen verstehen.“

„Ich höre, daß Sie über die Kunst nachgedacht haben, Fräulein, und das freut mich herzlich.“

„So erlauben Sie mir, noch ein wenig weiter nachzudenken.“

Sie machte ihm eine Verbeugung und wollte sich mit Emma entfernen. Er aber trat ihr mit einem raschen Schritt in den Weg und sagte:

„Verzeihung. Vorher noch eine Frage.“

„Sprechen Sie sie aus.“

„Ist es Ihnen nicht möglich, mir vor Ihrer Abreise noch fünf Minuten zu schenken?“

„Wozu?“

„Ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen, welche für Sie vielleicht von großer Wichtigkeit ist.“

„Können Sie damit nicht vielleicht bis zu meiner Rückkehr warten, Herr Haller?“

„Was mich betrifft, so würde dieser Aufschub mich weder schmerzen noch schädigen; aber im Hinblick auf Sie dürfte es besser sein, wenn Sie mich noch vor der Abreise hören wollten.“

„Und doch wollen Sie mir erlauben, es bei der ersten Bestimmung zu lassen. Meine Zeit ist mir heute so kurz zugemessen, daß ich wohl kaum über fünf Minuten verfügen kann.“

„Selbst dann nicht, wenn ich Ihnen sage, daß der Gegenstand meiner Bitte in Beziehung zu Ihrer Familie steht?“

Jetzt stutzte sie doch; sie blickte ihn forschend an und fragte:

„Zu meiner Familie? Ich habe doch keine!“

Er zuckte die Achseln und antwortete leichthin:

„Vielleicht doch.“

Sie war jetzt auf einmal so anders gegen ihn als vorher. Warum? Hatte diese Freundin Emma König vielleicht von ihrer mehrmaligen Begegnung mit ihm gesprochen? Das aber war doch unmöglich. Sie konnte ja gar nicht wissen, daß er hier wohnte. Aber für die Veränderung ihres Benehmens mußte Madelon bestraft werden; das stand bei ihm fest. Er war nicht der Mann, sich zum Gegenstand einer Laune machen zu lassen.

„Vielleicht doch?“ fragte sie, indem sie seine Worte wiederholte. „Ich und Nanon, wir sind Waisen: selbst der Pflegevater ist nun tot.“