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„Aber Ihr Vater kann noch leben, Ihr Großvater ebenso.“

„Wozu diese Bemerkungen?“

„Vielleicht habe ich einen Grund dazu. Nicht wahr, Ihr Vater trug den Vornamen Gaston?“

„Ja. Das sagte ich Ihnen bereits.“

„Und Ihre Mutter hieß Amély?“

„Auch das wissen Sie von mir.“

„Ist Ihnen der Name Bas-Montagne bekannt?“

„Bas-Montagne? Mein Gott, ja! Es ist mir, als ob ich ihn öfters gehört hätte, früh, sehr früh in meiner Jugend. Was ist's mit diesem Namen?“

„Er steht in sehr enger Beziehung zu dem ‚süßen Kolibri‘. Aber Sie haben ja keine Zeit.“

„Sie sprechen in Rätseln. Bitte, so erklären Sie sich doch!“

„Dazu hätte ich eine längere Zeit vonnöten, als Sie mir heute widmen können. Sie hatten die Güte, mir vorhin einiges über Ihre Jugendverhältnisse mitzuteilen. Fragen Sie Fräulein König. Sie ist zwei Personen begegnet, welche mehrere Abbildungen von Kolibris bei sich trugen. Vielleicht steht auch dieser Umstand in Beziehung zu dem Dunkel, welches Sie so gern durchdringen möchten.“

„Sie sind garstig, höchst garstig!“ rief Madelon ungeduldig. „Sie wissen etwas, Sie haben etwas erfahren und wollen es mir nicht sagen!“

„Ich bin keineswegs garstig, Fräulein Köhler; seit Sie von Ihren Schicksalen zu mir gesprochen haben, möchte ich das Meinige dazu beitragen, das Rätsel Ihres Lebens zu lösen. Mir scheint, daß der Zufall so freundlich gewesen ist, mir einen kleinen Wink zu geben. Ich kann mich irren, aber ich glaube, eine Person getroffen zu haben, welche zu Ihren Schicksalen in näherer Beziehung steht.“

„Wer ist das?“

„Lassen Sie mich darüber noch schweigen. Ich muß sondieren, forschen und überlegen. Die von mir gewünschte Unterredung sollte mir das Material dazu liefern; aber ich sehe selbst ein, daß kein Grund zu großer Eile vorhanden ist. Sie werden bald wieder zurückkehren, und dann können wir diesem Gegenstand mehr Zeit und Aufmerksamkeit widmen.“

Das klang so zurückhaltend und frostig, daß sie ihm forschend in die Augen blickte. Seine Bemerkungen hatten ihr höchstes Interesse erregt; sie hätte ihm gern eine halbe Stunde geschenkt anstatt der erbetenen fünf Minuten, aber der Ton seiner letzten Worte erkältete sie:

„Wie Sie wollen, Herr Haller“, sagte sie. „Ich gebe Ihnen ganz recht, die Zeit abzuwarten, in welcher ich aufmerksamer sein kann als heute. Adieu!“

Sie nickte ihm kurz zu und ging. Emma machte ihm eine hochfeine, vornehme Verbeugung und folgte ihr. Er blickte noch einige Sekunden lang nach der Tür, als diese sich hinter ihnen geschlossen hatte, strich er sich nachdenklich über die Stirn und wendete sich dann an seine Wirtin:

„Fräulein König hat Ihnen erzählt, daß wir einander begegnet sind?“

„Ja“, antwortete sie, da sie unmöglich leugnen konnte.

„Wir sahen uns wiederholt in eigentümlicher Situation, doch war nicht ich der Urheber derselben. Wie aber konnte Fräulein König wissen, daß ihr Bekannter von Tharandt und Dresden aus es ist, der bei Ihnen wohnt?“

„Derjenige, welcher auch an allem anderen die Schuld trägt, Ihr kleiner, dicker Herr Kollege, hat es verraten.“

„Wieso?“

„Sie erzählten gestern abend von ihm.“

„Ich entsinne mich allerdings.“

„Und Fräulein König erzählte von ihm. Die Beschreibung der Person stimmte ganz genau, und so mußten Sie es sein, der bei ihm gewesen war.“

„Ja, so läßt es sich erklären. Aber dieser Fächer hier; wem gehört er? Vielleicht Fräulein Köhler?“

„Nein. Ah, den hat ihre Freundin vergessen. Wie schade!“

„Spricht sie öfters hier vor?“

„Nein. Darum wird sie den Fächer vermissen.“

„Aber sie kann noch nicht weit sein. Vielleicht gelingt es mir noch, sie zu ereilen.“

Er nahm den Fächer und ging. Sie machte keinen Versuch, ihn zurückzuhalten. Als er aus dem Haus trat, konnte er die Gesuchte nicht erblicken; aber nachdem er eine Strecke rasch zurückgelegt hatte, sah er sie mit Madelon. Er verdoppelte seine Schritte. Sie gingen jetzt an dem Torweg vorüber, an welchem der Dicke seine heutige Niederlage erlitten hatte, und traten dann in das nächste Haus.

Als er nach einigen Augenblicken die Tür desselben erreichte, hörte er oben das Glockenzeichen geben; sie befanden sich also jedenfalls noch auf dem Vorsaal. Er eilte rasch die Treppe hinauf, aber als er oben ankam, sah er bereits die Flügeltür aufstehen und die Damen im Begriff, einzutreten. Der Diener, welcher geöffnet hatte blickte ihn fragend an, er aber sagte laut:

„Fräulein König, Entschuldigung.“

Sie hörte es und wandte sich zurück. Als sie ihn mit dem Fächer erblickte, glitt es wie ein rascher Entschluß über ihr Gesicht; sie blieb im Vorzimmer stehen, winkte ihn mit der Hand näher und sagte:

„Da habe ich meinen Fächer vergessen, und Sie sind so gütig, sich damit zu belästigen. Bitte, treten Sie näher!“

Er dachte gar nicht daran, den Namen zu lesen, welcher mittelst eines Schildes an dem linken Türflügel befestigt war. Er trat ein; der Diener verbeugte sich und zog die Tür hinter sich zu. Haller war gefangen, ohne zu ahnen, wo er sich befand. Er dachte bei der Herrschaft der vermeintlichen Gouvernante zu sein.

Emma nahm den Fächer aus seiner Hand, bedankte sich mit einem freundlichen Nicken und sagte dann:

„Bitte, haben Sie die Güte, näher zu treten!“

Dabei hatte sie auch bereits den Drücker der nächsten Tür in der Hand. Er erschrak und beeilte sich, Einspruch zu erheben.

„Unmöglich, Fräulein!“ sagte er. „Erlauben Sie mir vielmehr, mich zurückzuziehen.“

Jedenfalls wohnte hier Frau von Goldberg. Wie sollte er vor dieser erscheinen, die Zeugin der fatalen Rutschfahrt gewesen war! Auch hatte er den einfachen Straßenanzug an und kein salonfähiges Gewand.

„Warum?“ fragte sie, während ein Lächeln ihr Gesicht erhellte, welches er sich nicht zu deuten wußte.

„Ich bin im Haus des Herrn Generals von Goldberg ein Fremder!“ antwortete er.

„Von Goldberg? Sie befinden sich ja gar nicht im Haus dieses Herrn, sondern bei mir, bei meinen Verwandten!“

„So habe ich mich geirrt. Das ist etwas anderes!“

Bei den Verwandten einer Gouvernante, bei einer bürgerlichen Familie König brauchte er sich nicht zu genieren, meinte er.

„So bitte. Treten Sie ein!“

Sie öffnete die Tür. Rechts am Eingange stand sie, links Madelon. Als er, zwischen ihnen hindurchgehend das nächste Zimmer betrat, fing er von beiden einen höchst befremdenden Blick auf. Solche Augen beobachtet man auf der Bühne in Szenen, wo Intrigantinnen einen Sieg errungen haben.

In dem Zimmer befand sich nur eine einzige Person. Ein alter Herr mit eisgrauem Haar und ebensolchem Schnurr- und Backenbart ruhte in einem weich gepolsterten Sorgenstuhl. Dieser Greis hatte das ehrwürdigste Gesicht, das Haller in seinem Leben gesehen hatte. Die kräftigen und doch feingeschnittenen Züge, das lebensvolle Auge, die hohe, breitschulterige Gestalt, alles ließ vermuten, daß dieser Mann in seiner Jugend ein Bild männlicher Schönheit gewesen sei!

Dieser nun hochbetagte Herr war der Rittmeister Hugo von Königsau, der einstige Liebling des alten Blücher.

„Großpapa, erlaubst du mir, dir diesen Herrn vorzustellen?“ fragte Emma. „Er war so freundlich, mir meinen Fächer zu bringen, den ich liegen gelassen hatte.“

„Tue es, mein Kind!“

Sie machte einen eigentümlichen Knicks, nickte dem Greis lächelnd zu und sagte: „Herr Haller, Maler aus Stuttgart.“

Die Lider des alten Herrn sanken augenblicklich herab. War es, um nicht merken zu lassen, daß dieser Name ihn überraschte?

Dann aber hoben sie sich wieder, und die Augen des Greises richteten sich mit einem großen, scharfen, forschenden Blick auf den Vorgestellten. Dann nickte er ihm zu und sagte: