Er näherte sich ihrem Kopf, ergriff die Decke und zog sie leise, leise über Arm und Busen der Schläferin hinweg. Und nun erst, da nur der Kopf zu sehen war, bog er seinen Mund zu ihrem Ohr nieder und flüsterte:
„Baronesse Marion!“
Da schlug sie langsam die Augen auf, hielt sie einen Moment lang auf ihn gerichtet und schloß sie dann wieder. Er bemerkte keine Spur von Schreck, im Gegenteil, es glitt ein leises, glückliches Lächeln über ihr schönes Angesicht.
Dachte sie etwa, daß sie nur träume? Jedenfalls.
„Gnädiges Fräulein. Bitte, wachen Sie auf.“
Da, erst jetzt zuckte sie zusammen. Ihre Lider öffneten sich – ein großer, erschrockener Blick der sich voll auf ihn richtete, aber kein Schrei, kein einziger Laut, dann zog sie die Decke bis über das Kinn herauf. Sie war vollständig erwacht und hatte ihn erkannt.
„Verzeihung, Baronesse“, flüsterte er ihr hastig zu. „Sie befinden sich in einer großen, fürchterlichen Gefahr, und ich mußte kommen, sie zu warnen.“
„Monsieur Müller!“ stieß sie hervor, aber nicht laut, sondern ebenso leise, wie er gesprochen hatte.
„Ja, ich bin es! Bitte, verzeihen Sie!“
„Gott! Ich begreife nicht! Gehen Sie!“
„Nein, nein! Ich muß bleiben! Es geht nicht anders! Man will sich an Ihnen vergreifen!“
Erst jetzt schien sie die Situation erfaßt zu haben.
„Bitte, das Licht weg!“ bat sie hastig.
Er schloß die Laterne und steckte sie in die Tasche.
„Stellen Sie einen Stuhl nahe zu mir; und sprechen Sie!“ gebot sie.
Er zog den Sessel ganz an das Bett heran, setzte sich nieder und sagte:
„Gott sei Dank, daß es mir gelungen ist, noch zur rechten Zeit zu kommen. Man will Sie gefangennehmen!“
„Gefangen? Wer?“
„Der Kapitän und Rallion!“
„Weshalb?“
„Um Sie zu zwingen, dem letzteren Ihr Jawort zu geben!“
„Wer sagt das?“
„Ich habe sie belauscht.“
„Mein Gott! Sich meiner bemächtigen! Etwa heimlich?“
„Ja.“
„Ah! Sie können nicht herein! Die Tür ist verriegelt.“
„Bin ich nicht auch hereingekommen?“
„Ah! Ja! Monsieur Müller, wie ist Ihnen das gelungen?“
„Ihr Zimmer hat einen geheimen Eingang.“
„Das ist doch nicht möglich!“
„Meine Gegenwart beweist das zur Genüge. Wie hätte ich Zutritt finden können, da die Tür verschlossen ist?“
„Das ist wahr! Welch ein Ort! Welch eine Wohnung! Aber, wann will man mich gefangennehmen?“
„In dieser Nacht noch, baldigst, jetzt! Vielleicht sind sie bereits so nahe, daß sie uns hören würden, wenn wir ein wenig lauter sprächen.“
„Mein Heiland! Was werde ich tun!“
„Nichts! Bitte, bleiben Sie liegen! Ich bin hier, Sie zu beschützen!“
„Ah, nun ich gewarnt bin, fürchte ich sie nicht. Haben Sie vielleicht Waffen bei sich?“
„Ja, einen Revolver.“
„Gut! Aber was werden jene sagen, wenn sie Sie bei mir finden, Monsieur Müller?“
„Nichts, gar nichts! Sie können nur sagen, daß ich gekommen bin, Sie zu warnen.“
„O nein, nein! Sie werden –“
Sie stockte. Wäre es hell gewesen, so hätte er die glühende Röte bemerkt, welche ihr Gesicht bedeckte. Doch erriet er, was sie sagen wollte. Darum fiel er rasch ein:
„Nein, gnädiges Fräulein! Ich werde Ihnen beweisen, daß ich erst seit zwei Augenblicken hier bin. Ich werde ihnen beweisen, daß ich nicht durch die Tür, sondern durch den geheimen Gang hierher kam. Ich werde Ihnen beweisen, daß ich sie belauscht habe, also auch nur in der Absicht, Sie zu warnen, hier sein kann.“
Das schien sie zu beruhigen.
„Sie können das beweisen?“ fragte sie, und als er bejahte, fuhr sie fort. „Gut! Das ist genug! Wo ist der geheime Eingang?“
„Im Wohnzimmer, zwischen dem Kamin und einem Diwan.“
„Ich danke! Bitte, rücken Sie ein wenig fort!“
Er gehorchte und hörte dann, daß sie sich erhob, um das Bett zu verlassen. Er vernahm ihre leisen Schritte und das Rauschen und Knittern von Zeug und Falten. Dann stand sie wieder in seiner Nähe.
„Sie wollen mich überraschen, diese beiden Menschen“, flüsterte sie; „aber sie selbst werden es sein, welche überrascht werden. Daher darf ich kein Licht anbrennen. Aber sah ich nicht vorhin eine Blendlaterne in Ihrer Hand? Sie können dieselbe augenblicklich öffnen, so daß es im Zimmer hell wird?“
„Sofort.“
„Das ist gut. Bleiben wir aber jetzt im Dunkeln. Zu wünschen wäre es nur, daß wir es bemerkten, wenn sie durch den Eingang kommen!“
„Wir werden es hören. Ich habe Ihren Sonnenschirm so gelegt, daß sie ihn umwerfen müssen, wenn sie eintreten. Das werden wir auf alle Fälle hören, gnädiges Fräulein.“
„So bin ich befriedigt. Ich weiß nun alles, was für den ersten Augenblick notwendig war, und wir können nun in Ruhe weitersprechen. Bitte kommen Sie mit herüber auf das Sofa.“
Er folgte ihr. Das Sofa war klein und kaum für zwei Personen bestimmt. Er drückte sich bescheiden ganz in die Ecke, um sie ja nicht zu berühren; da aber sagte sie:
„Wollen Sie nicht näherrücken, Monsieur Müller? Wir dürfen ja nur äußerst leise sprechen, und das ist nicht möglich, wenn Sie sich so sehr entfernt halten.“
Er gehorchte, so weit es die Bescheidenheit ihm erlaubte.
„Noch näher!“
„In einer Lage, wie die gegenwärtige ist, darf man nicht auf die schroffen Regeln des Dehors achten. So, jetzt sitzen wir nahe genug und können unser Flüstern gegenseitig verstehen!“
Die Berührung ihres warmen, weichen Händchens durchzuckte ihn elektrisch. Er fühlte, während sie, mit dem Kopf zu ihm geneigt, redete, den Hauch ihres Mundes. Welch ein Vertrauen! Sie wußte, daß er sie liebte; er hatte es ihr ja gestanden; und dennoch bat sie ihn, so nahe bei ihr zu sein! Er fühlte sich glücklich wie noch nie in seinem Leben.
Sie hatte ihre Hand wieder aus der seinigen genommen. Jetzt erkundigte sie sich:
„Und nun, bitte, wie sind Sie hinter das Geheimnis gekommen, Monsieur Müller?“
„Ich habe jene belauscht.“
„Das sagten Sie bereits. Aber wo?“
„Im Zimmer Rallions.“
„Wie kamen Sie dorthin?“
Er zögerte einige Augenblicke. Darum fragte sie:
„Ist das ein Geheimnis?“
„Ich kann das nicht leugnen. Es ist sogar ein höchst wichtiges Geheimnis.“
„Welches Sie mir nicht mitteilen können?“
Obgleich sie nur ganz leise sprach, klang es doch wie ein Vorwurf von ihren Lippen.
„Ich wollte, ich dürfte Ihnen alles, alles mitteilen!“ antwortete er.
„Sie dürfen also nicht?“
„Nein.“
„Und dennoch müssen Sie sich sagen, daß ich Ihnen in diesem Augenblick ein Vertrauen entgegenbringe, wie es größer wohl kaum gedacht werden kann!“
„Baronesse, ich gestehe, daß ich mich tief beschämt fühle! Aber diese Geheimnisse sind nicht mein ausschließliches Eigentum!“
„Das ist allerdings ein Grund. Also sagen Sie mir wenigstens so viel, wie Sie sagen dürfen!“
„Ich will alles tun, was ich darf, indem ich Ihnen erkläre, daß ich nicht nur in der Absicht, Ihren Bruder zu unterrichten, nach Schloß Ortry kam.“
„Das ist mir allerdings eine große Überraschung. Sie verfolgen also noch andere Absichten?“
„Nur eine einzige noch: die Beobachtung des Kapitäns.“
„Ah! Sie kamen, ihn zu beobachten! Das läßt mich vermuten, daß Sie eigentlich nicht Erzieher sind, sondern etwas anderes.“
Diese Wendung war ihm sehr unangenehm. Er beschloß, lieber eine Unwahrheit zu sagen, als sich in eine schiefe Lage zu bringen. Darum fragte er:
„Was sollte ich da wohl sein?“
„Polizist vielleicht“, antwortete sie zögernd.