Die Stimme hört sich anders an als die von Carolin, trotzdem sehr nett. Warm und weich. Allerdings klingt sie irgendwie auch nach schlechten Nachrichten. Tatsächlich höre ich der menschlichen Stimme sofort an, ob sie etwas Schönes oder etwas Trauriges zu erzählen hat.
»Also, das ist mir jetzt äußerst unangenehm, aber ich fürchte, ich muss die Betreuung für Henri absagen.«
Oh. Das sind wohl wirklich keine guten Nachrichten. Denn selbst für meine Dackelohren nimmt sich das wie eine drastische Planänderung aus, und solche Änderungen kommen beim Menschen meistens nicht so gut an. Caro sagt erst mal nichts. Dafür fängt Frau Langhagen nach einer kurzen Pause wieder an.
»Ja, ich weiß, das ist jetzt wahrscheinlich ein Schock für Sie – aber wissen Sie, mein Mann hat ein sehr attraktives Angebot aus Norwegen. Er ist Arzt und hier schon lange nicht mehr glücklich. Ich könnte dort auch sofort wieder als Hebamme arbeiten. Wir haben lange mit uns gerungen – aber es ist nun mal so: jetzt oder nie. Irgendwann sind wir sonst zu alt. Nächsten Monat geht es schon los.«
Caro sagt nur Aha. Sonst sagt sie nichts. Dafür redet Frau Tagesmutter umso mehr. Es sprudelt geradezu aus ihr heraus.
»Ich weiß, dass das jetzt sehr kurzfristig ist, aber so eine Chance bekommt man nicht alle Tage, und wegen dieser Jobgeschichte meines Mannes hatten wir schon einige schlaflose Nächte. Sie können sich ja gar nicht vorstellen, wie schlimm das hier in Deutschland als Krankenhausarzt ist. Immer dieser Stress, die viele Verantwortung. Mein Mann hat ja mittlerweile gar nichts mehr von unseren eigenen Kindern. Immer morgens so früh raus und abends erst spät heim. Und dann die langen Dienste. Aber in Skandinavien, da ist das alles anders. Da zählt die Familie noch was und die Work-Life-Balance, da werden …«
Caro greift ins Regal und schnappt sich den Hörer. Klick. Möööööhhhhh. Jetzt hat sie wohl aufgelegt.
Erstaunt blicke ich zu ihr hoch. Das ist etwas Neues. So beendet Carolin Telefonate eigentlich nie. Ob ihr die Geschichte zu aufregend war ? Norwegen. Skandinavien. Work-Life-Balance. Ich muss zugeben, dass ich fast nichts verstanden habe. Das war aber auch nicht nötig. Denn der Stimme konnte man es genau anhören: Hier hatte jemand ein verdammt schlechtes Gewissen. Und wollte es sich von der Seele reden. Aber obwohl Carolin sonst ein ungemein mitfühlender Mensch ist: Gerade jetzt sieht sie überhaupt nicht so aus, als ob ihr das pure Mitgefühl die Sprache verschlagen hätte. Eher so, als habe sie sich urplötzlich und überraschend eine böse Krankheit zugezogen. Sie ist ganz blass um die Nase, und ihre Unterlippe zittert. Jaul ! Ob man sich per Telefon bei anderen Menschen anstecken kann ? Möglicherweise mit Skandinavien oder Norwegen ?
Jetzt schüttelt sich Carolin kurz, greift nach ihrer Wäsche, die auch im Regal liegt, und zieht sich in Sekundenschnelle an. Wow – die hat es aber eilig. Dann geht sie aus dem Bad und klopft an Luisas Tür. Die öffnet.
»Ja ?« »Sag mal, ich muss kurz runter in die Praxis. Henri schläft noch. Kümmerst du dich um ihn, falls er wach wird ?«
Luisa, ganz gewissenhafte große Schwester, nickt.
»Geht klar. Aber in einer halben Stunde muss ich weg. Bin mit Hanna im Kino verabredet.«
Was will Caro denn in der Praxis ? Soll ihr Marc vielleicht eine Spritze geben ? Immerhin kennt er sich als Tierarzt auch ein bisschen mit menschlichen Erkrankungen aus. Jedenfalls hat er meinen Freund Willi mal gerettet, als der im Park plötzlich umgekippt ist. Und als Henri zur Welt kam, wusste er auch, was zu tun ist. Ist ja auch kein Wunder. Zwei- und Vierbeiner sind sich eben doch ähnlicher, als Menschen wahrhaben wollen. Ich beschließe, mich mit Caro in die Praxis runterzumogeln. Zusammen mit Luisa auf den schlafenden Henri aufzupassen ist mir definitiv zu langweilig.
Carolin ist noch so sehr neben der Spur, dass sie mich gar nicht bemerkt, als ich einfach hinter ihr herlaufe. Sie klingelt kurz an der Praxistür im Erdgeschoss unter unserer Wohnung, der Summer geht, und schon sind wir drin. Ein wildes Geruchswirrwarr von verschiedensten Tieren schlägt mir entgegen. Mindestens zwei andere Hunde, eine Katze und ein Kaninchen erkenne ich sofort. Das ist doch mal deutlich spannender als Penn-Nase Henri ! Ich will gerade ins Wartezimmer durchlaufen, da werde ich entdeckt. Und zwar nicht von Caro, sondern von Frau Warnke, Marcs Helferin.
»Oh, hallo, Frau Neumann ! Und hallo, Herkules ! Stimmt was nicht mit dem Superdackel ?«
Carolin schaut verwirrt.
»Was ? Äh, ach, ist der etwa mitgekommen ? Mensch, Herkules, was soll denn das ? Das passt mir gerade gar nicht, ich muss mal in Ruhe mit Herrchen sprechen !«
Frau Warnke beugt sich zu mir hinunter.
»Soll ich so lange auf ihn aufpassen ?«
Caro schüttelt den Kopf.
»Ist schon okay. Ich nehme ihn dann doch mit rein zu Marc, wenn der Zeit hat.«
»Er ist bestimmt gleich frei.«
Tatsächlich geht keine zwei Minuten später die Tür zu Marcs Behandlungszimmer auf, und ein Junge mit einer Transportbox unter dem Arm kommt uns entgegen. Riecht nach Meerschweinchen. Stehen meiner Meinung nach auf der Liste der langweiligsten Tiere überhaupt ganz oben. Vielleicht sogar noch vor Wellensittichen.
»So, Max, und wenn du noch mal versuchst, deinen Kumpels die Krallen zu schneiden, dann nimmst du bitte die Zange, die ich dir jetzt mitgebe, und lässt dir von einem Erwachsenen helfen. Und ganz wichtig: Der schwarze Strich, den du sehen kannst, ist die Ader. So hoch darfst du auf keinen Fall schneiden, klar ?«
Der Junge nickt.
»Gut. Dann grüße deine Eltern von mir.«
Der Junge zockelt ab, Carolin begrüßt Marc, der ihr erstaunt die Tür aufhält.
»Oh, waren wir verabredet ?«
»Nein, aber ich muss dringend mit dir sprechen.«
»Lass mich raten«, fragt Marc lachend, »das Trauzimmer im Leuchtturm ist schon ausgebucht.«
Caro sagt dazu nichts, sondern geht an ihm vorbei ins Behandlungszimmer und schließt die Tür. Ich muss richtig Gas geben, damit sie meine Rute nicht einklemmt – also jetzt ist Caro aber wirklich nicht gut drauf ! Sie steuert einen der beiden Stühle an Marcs Schreibtisch an und sinkt auf ihm zusammen.
»Marc, es gibt katastrophale Neuigkeiten !«
»Okay – es geht also nicht um das Trauzimmer, nehme ich an.«
Caro schüttelt den Kopf.
»Nein, damit hat es nichts zu tun. Es ist eine echte Katastrophe. Keine gefühlte.«
Nun schaut Marc auch besorgt.
»Was ist denn bloß passiert, Spatzl ?«
»Frau Langhagen hat eben angerufen.«
»Wer war jetzt gleich noch mal Frau Langhagen ?«
»Die Tagesmutter !«
Caros Stimme klingt schrill und scharf.
Marc hebt beschwichtigend die Hände.
»Entschuldige, dass ich den Namen nicht gleich parat hatte. Okay, die Tagesmutter. Was wollte sie ?«
»Sie hat abgesagt, Marc. Sie hat einfach abgesagt. Sie wird Henri nicht nehmen. In vier Wochen beginne ich wieder zu arbeiten, und wir haben keine Kinderbetreuung !« Carolin fängt an zu weinen.
Marc legt seinen Arm um sie.
»Spatzl, ganz ruhig. Mal der Reihe nach: Die hat abgesagt ? Aber das geht doch nicht so einfach. Die kann doch nicht kurz vorher anrufen und absagen. Wir haben immerhin einen Vertrag mit der unterschrieben.«
Caro schluchzt und zuckt mit den Schultern.
»Ja, aber was hilft uns der ? Die wandert spontan nach Norwegen aus, mit ihrer ganzen Familie. Wir können sie kaum zwingen, in Hamburg zu bleiben. Selbst wenn sie die Kündigungsfrist noch einhält – was nützen denn vier Wochen ? So lange dauert doch schon die Eingewöhnung. Und dann ist sie weg.«
Das Schluchzen geht über in heftiges Tränenvergießen.
Marc stöhnt.
»Scheiße. Kann nicht einfach mal irgendetwas nach Plan laufen ? Gib mir mal die Nummer von der Alten, die ruf ich jetzt an und erzähl ihr ein paar Takte.«
Caro schluckt.
»Die Nummer gebe ich dir gleich. Aber das bringt doch sowieso nichts.«