Ich beschließe, einen Ausbruchsversuch zu wagen und mich zu Marc und Caro durchzuschlagen. Die sind leider so damit beschäftigt, die Kinder zu trösten, dass sie offenbar überhaupt nicht bemerken, in welcher Notlage ich mich befinde. Entschlossen presche ich auf die Lücke zwischen zwei Schafen zu – und ebenso entschlossen senkt das eine seinen dicken Schädel und rammt mich in die Seite. Jaul ! Das tat aber richtig weh ! Hey, Friede ! Ich will doch gar nichts von euren Lämmern ! Ich will doch nur wieder zu meiner Familie ! Und überhaupt – wenn Henri nicht mit den Bananen gematscht hätte, wäre das alles nicht passiert. Ist doch nicht meine Schuld !
Ein heiseres Bellen, die Köpfe der Schafe fahren herum.
Zottel. Endlich ! Er kommt aus Richtung Deich angestürmt, umrundet einmal meine Angreifer und zwickt dann zwei von ihnen geschickt in die Hinterläufe. Die brechen daraufhin zur Seite aus und geben den Weg für mich frei. Schnell bringe ich mich in Sicherheit und renne zu Marc und Caro. Wuff. Das war knapp. Sehr knapp. Ich kann spüren, wie mein Herz rast, und lege mich erst einmal bäuchlings zum Verschnaufen ins Gras.
»Endlich, Herkules, da bist du ja ! Wo warst du denn ? Ein toller Wachhund bist du ja nicht gerade !«
Schimpft Marc etwa mit mir ? Mit mir, dem tapferen Jagdhund, der sich mutig vor die Kinder seines Herrchens geschmissen hat ? Dieser Vorwurf tut mehr weh, als von einem Schaf ins Bein gezwackt zu werden. Ich vergrabe den Kopf zwischen meinen Vorderpfoten und winsele. Die Welt ist so ungerecht !
Marc streicht mir über meine tief gefurchte Stirn.
»Nichts für ungut, Herkules. Aber während du hier rumgestromert bist, mussten wir uns mit gemeingefährlichen Schafen herumschlagen. Da wäre es schon besser gewesen, du wärst nicht einfach abgehauen. Vielleicht sollte ich dich besser anleinen.«
Bitte ? Zur Strafe an die Leine ? Tatsächlich. Marc zieht die Leine aus seiner Jackentasche, kniet sich hin und leint mich an. In einiger Entfernung sitzt Zottel und beobachtet das Ganze. Feixend, wie mir scheint. Was für eine Demütigung ! Carl-Leopold von Eschersbach, Nachfahre berühmter Jagdhunde, Retter von Henri und Luisa, an die Leine gelegt. VOR einem ganz gewöhnlichen Hütehund !
Gesenkten Hauptes trotte ich hinter meinen Menschen her. Die Schafe blöken gehässig.
Zottel kommt angetrabt.
»Ich hab’s dir ja gesagt – die Muttertiere sind ganz schön nervös momentan. Aber ist noch mal gut gegangen. Eure Kinder haben sich nur erschreckt, oder ?«
Ich nicke und trotte weiter.
»Alles okay bei dir ?«
Kein Kommentar.
»Hey, nimm’s nicht so schwer. Das kann immer mal passieren. Ich meine – ihr kennt euch mit Schafen eben nicht aus. Ihr seid aus der Stadt, oder ? Sieht man doch schon daran, wie ihr hier rumlauft. Und dann – heiraten auf dem Turm. Mein Schäfer würde jetzt sagen, dass nur Städter auf so einen seltsamen Gedanken kommen. Du müsstest das im Sommer mal sehen: Die Bräute in ihren langen Kleidern – hier, wo Menschen doch eher Gummistiefel brauchen. Und als Hund verliert man in der Stadt wahrscheinlich auch alle überlebenswichtigen Instinkte. Na, hat man ja gerade auch an dir gesehen. Also, ich würde sagen …«
Ich bleibe stehen und mustere Zottel.
»Apropos sagen: Wenn du mich nicht eben gerettet hättest, würde ich jetzt sagen Schnauze, Landei !«
Und dann lasse ich den Idioten einfach stehen und trabe weiter Richtung Leuchtturm. In der Hoffnung, dass es Caro dort oben nicht gefällt und ich nie wieder hierhinmuss. An den Ort meiner Schmach.
Am Turm angekommen bestätigt sich eine Befürchtung nicht: Die Stufen sind selbst für jemanden mit meiner Beinlänge locker zu bewältigen. Allerdings führen sie wie eine Spirale im Kreis nach oben, nach drei Runden ist mir ganz schwindelig, und ich muss ein kurzes Päuschen machen. Ob mich nicht einer meiner Menschen tragen kann ? Immerhin wird Henri auch nach oben geschleppt, und der wiegt mittlerweile bestimmt mehr als ich ! Aber nein, sie turnen alle munter an mir vorbei. Super. Ein Weltklasseausflug. Von Schafen malträtiert, vom Frauchen missachtet.
Nach drei weiteren Runden kommen wir endlich in einem Raum an, in dem ein Tisch und mehrere Stühle stehen. Der Raum ist ganz rund, Licht fällt nur durch Fenster, die ganz oben an der Wand liegen müssen, ich kann sie jedenfalls nicht sehen. Hier im Turminneren kann man auch erkennen, dass er komplett aus metallenen Vierecken zusammengesetzt zu sein scheint. Fast sieht es aus, als stünden wir mitten in einer Maschine. Überhaupt ist der Raum ganz schlicht, kein Vergleich zu den holzgetäfelten und geschmückten Zimmern, die wir eben im Kloster besichtigt haben.
»Und, wie findest du es ?«, will Marc von Carolin wissen.
Die dreht sich zögerlich hin und her.
»Weiß nicht. Ist natürlich schon sehr karg hier.«
»Maritim eben.«
»Hm. Das sah in dem Hochzeitsmagazin viel netter aus. Na ja, wenn ich dich auf einem Schiff kennengelernt hätte, würde es passen.«
»Hast du aber nicht, richtig ?«
»Richtig.«
»Okay. War auch nur ein Vorschlag.«
Sehr gut. Scheint so, als ob ich die blöden Schafe nie wiedersehen müsste.
NEUN
Ja, okay, ich versuche, es irgendwie zu schaffen ! Bis gleich !«
Als Caro auflegt, ist sie ganz aufgeregt. Dann verstaut sie das Handy nicht etwa in ihrer Jackentasche, sondern wählt sofort wieder.
»Marc ? Du musst sofort mit Henri kommen. In den Katharinenweg. Die Purzelzwerge haben eben angerufen.«
Ich kann nicht genau hören, was Marc antwortet, aber er klingt erstaunt.
»Ja, ich weiß, dass wir da eigentlich erst morgen den Termin haben, aber da klappt es doch nicht bei ihnen, aber sie könnten heute in der Mittagspause. Wenn wir da nicht gleich erscheinen, ist der Platz weg.«
Pause.
»Genauso ist es. Jetzt oder nie !«
Sie legt auf, und nun verstaut sie das Handy wirklich wieder in der Jacke.
»Komm, Herkules, gib Gas. Wir müssen gleich einen superguten Eindruck machen. Schon schlimm genug, dass ich dich überhaupt mitbringen muss – also benimm dich !«
Dann scheint ihr noch etwas anderes durch den Kopf zu schießen, und sie kramt wieder ihr Handy hervor.
»Marc ? Ich bin es noch mal. Tu mir mal einen Gefallen – setz Henri bitte nicht in die Karre, sondern pack ihn ins Tragetuch. Genau. Warum ? Nein, die Karre ist heil – aber ich will, dass wir einen besonders guten Eindruck machen. Und ich glaube, Väter, die ihre Kinder im Tragetuch tragen, machen bei Erzieherinnen bestimmt einen sehr engagierten, netten Eindruck. Bestimmt. Bis gleich !«
Während wir eben noch Kurs Werkstatt unterwegs waren, ändern wir jetzt unsere Richtung. Weil ich nicht weiß, wo genau Carolin nun hinwill, bleibt mir nichts anderes übrig, als einfach hinter ihr herzulaufen. Und dabei über das zu sinnieren, was ich eben gehört habe. Väter mit Tragetüchern machen einen guten Eindruck. Wie kann Caro das gemeint haben ? Was für einen Unterschied macht es denn, ob Marc, der heute kurz auf Henri aufpassen sollte, während wir in die Werkstatt wollten, Henri nun in der Karre oder im Tuch anschleppt ? Das kann doch nicht ernsthaft für irgendjemanden von Belang sein. Und falls doch, muss ich feststellen, dass die Aufzucht des menschlichen Nachwuchses ungleich komplizierter ist, als einen Dackelwurf großzukriegen. Wobei man das gar nicht meinen sollte, denn für mich liegt es völlig im Bereich des Unmöglichen, dass es einen strengeren Verein als den Deutschen Teckelclub von 1888 gibt. Und bei denen nutzt einem ein Tragetuch, will sagen, ein netter, engagierter Eindruck, gar nichts. Entweder man hat die richtigen Papiere – oder man darf nicht züchten. So einfach ist das.