»So, stopp, da wären wir schon. Hier sind die Purzelzwerge. Und jetzt gilt: Gutes Benehmen ist Pflicht ! Du weichst nicht von meiner Seite. Nicht, dass das wieder so ein Durcheinander wie am Leuchtturm gibt !«
Pah ! Diese Spitze kann sie sich sparen ! Soll sie mal besser ein Auge auf den Junior haben, dann passiert auch nichts. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass es bei den Purzelzwergen Schafe gibt.
Von außen betrachtet sieht das Haus, vor dem wir jetzt stehen, nämlich ganz normal aus. Direkt vor uns kann man durch eine Schaufensterscheibe in einen kleinen Laden gucken. Offenbar wird dort Kinderspielzeug verkauft, denn selbst aus meiner Augenhöhe sehe ich sehr viel davon in dem Laden herumliegen. Puppen, Bauklötzchen – eben all das, was auch in Henris Zimmer herumfliegt, weil er damit noch nicht viel anfangen kann. Wohingegen ich damit bei Strafe nichts anfangen darf, obwohl ich es durchaus könnte. So ungerecht ist die Welt !
Caro wirft einen Blick aufs Klingelschild, dann drückt sie einen der Knöpfe, und kurz darauf geht der Summer, und wir stehen im Hausflur. Es riecht alt und muffig, und ich bin mir ziemlich sicher, auch einen Hauch dreckiger Windel zu erschnuppern. Alles in allem kein tolles Geruchserlebnis. Warum wollen wir gerade hier einen guten Eindruck machen ?
Die Tür zum Laden hin öffnet sich, und eine junge Frau schaut heraus.
»Hallo ! Bist du Caro ?«
Caro nickt.
»Ich bin die Dörte. Kommt doch rein.«
»Danke ! Und das mit dem Hund ist wirklich kein Problem ? Ich bin ihn nicht so schnell losgeworden.«
»Nein, ist völlig okay. Unser Anruf war ja ziemlich spontan. Wir haben ein altes Kissen rausgekramt, da kann er sich gern drauflegen. Wir sind hier sowieso nicht so eine sterile Einrichtung. Ist überhaupt nicht gut für Kinder.«
Falls steril ein anderes Wort für ordentlich sein soll, muss ich Dörte sofort recht geben. Es ist wirklich nicht besonders ordentlich hier. Ich erkenne jetzt, dass wir uns nicht in einem Spielzeugladen befinden, sondern dass der große Raum vielmehr eine Art Spielzimmer ist, in dem alles wild durcheinanderfliegt. Gut, dass Hedwig nicht hier ist. Die würde einen Anfall bekommen. Vielleicht ist steril aber auch ein anderes Wort für sauber. Würde auch passen. Auf Anhieb finde ich auf dem Boden vor mir nämlich Krümel von Keksen und etwas, was selbst meine sensible Dackelnase nicht identifizieren kann. Es riecht nach fast gar nichts. Wie mag es wohl schmecken ? Schnell schlabbere ich es auf. Hm. Scheint eine Art Reiskeks zu sein. Ungesalzen. Fast ohne Geschmack. Sollten die damit hier etwa die Kinder füttern ? Gottogott. Der arme Henri !
Ein kräftiger Ruck an meiner Hundeleine.
»Sag mal, spinnst du, Herkules ?«, zischt Carolin mir zu. »Du kannst doch hier nicht vom Boden fressen !«
Wahrscheinlich stimmt das. Viel zu gefährlich ! Ich würge ein paar Krümel wieder aus.
Ein neuer Ruck an meinem Halsband.
»Jetzt reicht’s aber ! Ich will hier einen guten Eindruck machen. Hör auf mit dem Mist, oder ich binde dich draußen am erstbesten Laternenpfahl an !«
So ist das also ! Nicht Sorge um meine Gesundheit, sondern Sorge um Dörtes Wohlwollen ! Was ist denn bloß mit Carolin los ? Die gibt doch sonst nicht so viel darauf, was andere Leute von ihr denken. Beleidigt trolle ich mich auf das große Kissen, das Dörte direkt neben das Schaufenster gelegt hat. Caro versucht, sich möglichst unauffällig zu bücken, und sammelt die ausgewürgten Brocken mit einem Taschentuch ein, das sie anschließend in ihrer Handtasche verstaut.
»Ist mein Freund noch gar nicht da ?«
»Nee, du bist die Erste von euch. Möchtest du vielleicht einen Roibuschtee ? Ich habe eben einen für das andere Bewerberpärchen gekocht, da müsste noch einer in der Kanne sein.«
»Das ist lieb, vielen Dank, aber im Moment nicht.«
Jetzt klingelt es wieder, genauer gesagt ertönt ein sanfter Gong. Caro guckt erstaunt, und Dörte erklärt kurz:
»Lustig, unsere Klingel, oder ? Ist, damit die Kinder in der Mittagsruhe nicht immer aufwachen. Das ist bestimmt dein Mann.«
Richtig. Im Türrahmen erscheint Marc mit einem vor seinen Bauch geknoteten Henri. Gut, dass der offenbar schläft – das Konstrukt sieht nämlich sehr ungemütlich aus, und im wachen Zustand würde Henri vermutlich lautstark protestieren.
»Hallo, Schatz. Das ist Marc, mein Freund. Und das schlafende Päckchen ist Henri. Marc, das ist Dörte.«
Die beiden schütteln sich kurz die Hand, Dörte streicht dem schlafenden Henri mit einem Wie süß ! über die Wange.
»So, dann will ich mit euch erst mal einen kurzen Rundgang machen. Hier drüben« – sie geht ein paar Schritte von der Haustür den Flur entlang – »ist unsere Küche.«
Wir folgen ihr und kommen in einen relativ großen Raum, in dem auch drei niedrige Tische mit noch niedrigeren Stühlen stehen.
»Hier wird gekocht, gleichzeitig haben wir genug Platz, um mit allen Kindern zu essen. Unser Essen ist natürlich bio und außerdem vegetarisch.«
Vegetarisch ? Das habe ich schon mal gehört – Luisa hat es mir erklärt. Es bedeutet mit ohne Fleisch. Ich bin erstaunt. Können Menschenkinder überhaupt ohne Fleisch richtig groß werden ? Nicht, dass unser Henri nicht nur schwachsinnig bleibt, sondern auch mickrig. Das wäre ja ganz furchtbar !
»Es ist so ruhig hier«, stellt Marc fest. »Wo sind denn die ganzen Kinder ?«
Dörte lächelt.
»Die machen gerade Mittagsschlaf. Um eins legen wir sie immer hin, dann ist hier mindestens eine Stunde Ruhe. Warte, ihr könntet mal einen Blick ins Schlafzimmer werfen.«
Sie geht aus der Küche und öffnet eine Tür schräg gegenüber. Schnell trabe ich zu ihr und linse durch den Spalt. Tatsächlich ! Auf einem Matratzenlager liegen lauter Kinder dicht an dicht und schnarchen friedlich vor sich hin. Im Rudel schläft es sich eben doch am besten !
»Tja, viel mehr gibt es auch nicht zu sehen. Wir sind eine sehr kleine Einrichtung, und das sind wir bewusst.«
Mit diesen Worten geht Dörte ins Spielzimmer vor und bietet Caro und Marc einen Platz auf dem Boden neben meinem Hundekissen an. Sehr seltsam. Wieso setzen die sich nicht auf Stühle ? Ich hebe den Kopf und schaue mich um. Verstehe. Hier gibt es gar keine Stühle. Nicht mal kleine wie in der Küche. Ein interessantes Konzept.
»So«, beginnt Dörte das Gespräch, »gleich kommen noch die Karin, die ist hier auch Erzieherin, und der Jörg. Der ist Vater und hat hier das ›Neue Eltern‹-Amt. Wie ihr wisst, sind wir eine Elterninitiative. Das heißt, bestimmte Aufgaben werden von den Eltern wahrgenommen, um Geld zu sparen. Damit bezahlen wir dann eine halbe Stelle mehr, sodass wir einen besseren Personalschlüssel haben. Kommt also den Kindern zugute. Und den Eltern irgendwie auch, denn die lernen sich ja untereinander viel besser kennen als in so einer großen Einrichtung.«
Marc und Caro nicken andächtig.
»Zum Ablauf: Vor euch hat sich auch ein Pärchen vorgestellt, und nach euch kommt noch eins. Wir haben aber leider nur einen Platz zu vergeben. Seid also bitte nicht enttäuscht, wenn es diesmal nicht klappt. Das hätte nichts mit euch persönlich zu tun, sondern schlicht und ergreifend mit der Tatsache, dass wir auf einen freien Platz momentan mehr als zehn Bewerber haben.«
Unfassbar ! Die Eltern stehen Schlange, um ihre Kinder hierherbringen zu dürfen ? Und deswegen auch der ganze Zirkus mit dem Tragetuch, das sich Marc sonst niemals freiwillig umbinden würde ? Nur, damit er jetzt als total fürsorglicher, seine Brut überall mit sich rumschleppender Menschenvater rüberkommt. Auweia. Die menschliche Kindererziehung wird mir immer rätselhafter. Wieso legen die meisten Menschen im Restaurant oder Café auf eine gewisse Optik Wert, und wenn es um die lieben Kleinen geht, dann steht eine Murkelbude wie diese hoch im Kurs ? Ob Menschen das irgendwie kuschelig finden ?
Marc hat sich Henri mittlerweile abgeknotet und legt ihn ganz vorsichtig auf ein Matratzenlager neben mir. Dann hockt er sich neben Carolin und nimmt ihre Hand. Das soll bestimmt auch sehr fürsorglich und sympathisch wirken.