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Einen Moment lang wusste Bast nicht, was sie von diesen Worten halten sollte. Mrs Walsh sagte die Wahrheit, das spürte sie - es gab nur sehr wenige Menschen, denen es gelungen wäre, sie zu belügen -, und doch hatte sie das Gefühl, dass da noch mehr war. Als ob sie ihr etwas verheimlichte.

Unsinn! Bast schob den Gedanken fast ärgerlich von sich. Sie war erschöpft und hungrig und müde von der anstrengenden Reise, und die Andeutungen, die Mrs Walsh über Isis und deren Aufenthaltsort gemacht hatte, beunruhigten sie anscheinend mehr, als sie zugeben wollte.

»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, antwortete sie, »und ich werde sicher morgen oder an einem der nächsten Tage auf Ihr Angebot zurückkommen. Aber ich muss zuerst ... ein paar Dinge in Erfahrung bringen. Sie brauchen nicht auf mich zu warten.«

»Die Tür ist immer offen«, antwortete Mrs Walsh. Anscheinend war das Thema damit für sie erledigt. »Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg bei der Suche.«

»Und ich werde vorsichtig sein«, fügte Bast hinzu. »Das verspreche ich.«

Damit ging sie, noch bevor die Pensionswirtin Gelegenheit zu einer weiteren Erwiderung fand.

Die Droschke wartete exakt an derselben Stelle vor dem Haus, an der Bast zuvor ausgestiegen war. Arthur hatte bereits die Tür geöffnet und stand lächelnd daneben, und sie ergriff auch jetzt wieder seinen galant ausgestreckten Arm, ließ sich von ihm beim Einsteigen helfen - obwohl er sie im Grunde genommen eher behinderte - und nahm Platz, bevor sie ihm den Zettel reichte, den sie vorhin schon Mrs Walsh gezeigt hatte. Sie war nicht überrascht, einen mindestens ebenso erschrockenen und zweifelnden Ausdruck auf seinem Gesicht zu gewahren, als er die Adresse im schwachen Licht der Gaslaternen entzifferte, doch er sagte nichts, sondern nickte nur, gab ihr den Zettel zurück und schloss die Tür.

Während er nach vorn ging und seine müden Glieder zwang, den Kutschbock zu ersteigen, lehnte sich Bast auf der Bank zurück und warf einen langen, nachdenklichen Blick aus dem Fenster. Das Gefühl einer leisen, erwachenden Erregung tief in ihrer Seele war immer noch da. Einen Moment lang kämpfte sie noch aus reiner Gewohnheit dagegen an, aber sie wusste auch, wie sinnlos dieses Bemühen war.

Und warum eigentlich?

Der Wagen setzte sich knarrend in Bewegung, und Arthur wendete das sperrige Gefährt mit erstaunlichem Geschick auf der schmalen Straße. Bast lauschte in sich hinein und versuchte wider besseres Wissen ein allerletztes Mal, die Vernunft über die Instinkte siegen zu lassen. Aber es war ein halbherziger Versuch, der von vornherein zum Scheitern verurteilt war, und sie hatte ihn im Grunde nur unternommen, weil sie aus irgendeinem absurden Bedürfnis heraus das Gefühl gehabt hatte, ihn sich schuldig zu sein.

Der Wagen rollte auf die breitere, besser gepflasterte Hauptstraße hinaus und wandte sich in östliche Richtung. Basts Blick ging erneut durch das Fenster, strich über die jetzt zum größten Teil dunkel daliegenden Gebäude und den Himmel, der von einer sonderbaren Klarheit war, aber auch so finster, wie man es selten erlebte, selbst in einer so großen Stadt wie London.

Sie ließ sich zurücksinken, schloss die Augen und atmete die kalte, klare Nachtluft ein. Das Tasten und Regen tief in ihrem Inneren wurde stärker, und während Arthur seine Peitsche knallen ließ und das Tempo der Kutsche steigerte, begann sich ein sachtes, erwartungsvolles Lächeln auf ihren Lippen breitzumachen, ohne dass sie selbst es auch nur spürte.

Das Raubtier war erwacht.

Und vor ihm wartete eine ganze Stadt voller Beute.

Die Fahrt dauerte nicht so lange, wie sie erwartet hatte. Bast hatte die Gardinen vor den schmalen Fenstern schließlich wieder geschlossen und sich zurückgelehnt und ihre Gedanken treiben lassen, aber ihr war natürlich dennoch nicht entgangen, dass die Fahrt - wenn auch in scharfem Tempo - nicht sehr viel länger als zehn Minuten gedauert hatte, bevor der Wagen wieder langsamer wurde, und sie ahnte bereits, in welchem Maße sich ihre Umgebung verändert hatte, noch bevor sie sich wieder aufrichtete und die Gardine zurückzog.

Sie erlebte trotzdem eine Überraschung. Der Wagen wurde immer langsamer, was auch daran lag, dass die Straße voller Menschen war, sodass Arthur sein Gefährt nur noch im Schritttempo durch die Menge bugsieren konnte. Zum Teil lag dies in der Enge der Straße begründet: Die schmalbrüstigen und in den seltensten Fällen mehr als zweigeschossigen Häuser standen sich nahe genug gegenüber, dass ihr Fahrer wohl ein Problem bekommen hätte, wäre ihm auch nur ein zweites gleichartiges Gefährt entgegengekommen. Außerdem war es dunkler, als sie erwartet hatte, denn von den in regelmäßigen Abständen angebrachten Gaslaternen brannte nur jede dritte oder vierte. Doch trotzdem und ungeachtet der bereits fortgeschrittenen Stunde war die Straße noch voller Menschen; zum Großteil Paare, die Hand in Hand oder auch in sittsamem Abstand nebeneinander flanierten oder einfach auf dem Gehsteig vor den Häusern standen und redeten. Manche drückten sich auch in einem Hauseingang herum oder gegen eine Mauer gelehnt, küssten sich oder zeigten sich noch weniger zurückhaltend, und aus etlichen offen stehenden Türen drangen Gelächter und schrille, viel zu laute und zumindest in Basts Ohren nur zu oft misstönende Musik.

Die Kutsche kam mit einem sanften Ruck endgültig zum Stehen, und Bast stieg rasch aus und ging nach vorne, um Arthur die Mühe zu ersparen, eigens vom Wagen heruntersteigen zu müssen. Er war sicher schon den ganzen Tag auf den Beinen, und vermutlich tat ihm jeder Knochen im Leib weh, vor allem, seit er ihr Gepäck in die Pension und die Treppe hinaufgetragen hatte, was ihr im Nachhinein beinahe ein schlechtes Gewissen bereitete.

»Das hier ist die richtige Straße?«, vergewisserte sie sich. Ihre Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren zweifelnd.

»Die Adresse, die auf Ihrem Zettel gestanden hat, Miss«, antwortete er. Es war nicht zu übersehen, dass er sich nicht wohl fühlte; nicht in dieser Gegend und auch nicht dabei, sie allein hier abzusetzen. Aber er besaß auch nicht den Mut, ihr seine Begleitung anzubieten - auch wenn es ohnehin nicht mehr als eine Geste gewesen wäre. »Whitechapel.«

Bast konnte nirgendwo eine Kirche entdecken, weder in weiß noch in irgendeiner anderen Farbe, aber sie konnte ohnehin nur ein kurzes Stück der Straße unmittelbar vor ihr ausmachen; vielleicht ein halbes Dutzend Gaststätten und einschlägiger Häuser, die sich unmittelbar vor ihnen erhoben und mit ihrem Lärm und dem aufdringlichen Licht den Eindruck erweckten, viel zahlreicher zu sein. Alles was dahinter lag, war in nahezu vollkommene Dunkelheit gehüllt, doch Basts scharfe Sinne verrieten ihr trotzdem, dass es dort vielleicht dunkel, aber keineswegs still oder gar verlassen war.

Und nicht nur ihre Sinne. Etwas in ihr spürte das Leben und das aufgepeitschte Miasma entfesselter Sinneslust und purer animalischer Gier in dieser Dunkelheit und reagierte mit einer eigenen, unendlich viel düstereren Gier darauf, die sie kaum noch zu beherrschen vermochte.

»Ist alles in Ordnung. Miss?«, fragte Arthur.

»Ja, natürlich«, versicherte Bast hastig. Sah man es ihr so deutlich an? »Ich ... war nur ein wenig überrascht, das ist alles.«

»Das ist das East End, Miss«, antwortete er. »Keine besonders gute Gegend.«

»Geht es hier immer so zu?«, fragte Bast, eigentlich aus keinem anderen Grund als dem, überhaupt etwas zu sagen und das Ungeheuer in ihrem Inneren zu besänftigen. Reden half. Nicht viel, aber es half.

»Heute ist Freitag, Miss«, antwortete er. »Da gibt es Lohn. Aber es ist auch sonst keine besonders gute Gegend. Keine, in die ich meine Tochter gehen lassen würde, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Er hatte keine Tochter, wie Bast sehr wohl wusste, aber das sagte sie nicht laut, sondern machte stattdessen nur ein verstehendes Gesicht und gab sich gleichzeitig Mühe, ein ganz kleines bisschen verlegen auszusehen. Es war völlig absurd - aber mit einem Male war es ihr wichtig, was Arthur von ihr dachte.