»Nummer neunzehn?«, vergewisserte er sich. »In dieser Straße? Sind Sie sicher?«
»Ja«, antwortete Bast. »Wieso?«
Der Mann setzte zu einer Antwort an, beließ es aber dann bei einem fast verächtlichen Verziehen der Lippen. Sein Blick saugte sich erneut und dieses Mal ganz unverhohlen an ihrem Kleid fest, als er mit einer Kopfbewegung hinter sich wies. »Das ist gleich dort hinten. Aber Sie sollten nicht allein dorthin gehen.«
»Dann begleiten Sie mich doch«, schlug Bast vor.
»Das ist eigentlich nicht mein ...« Er brach ab, räusperte sich und sah plötzlich aus, als wäre ihm etwas eingefallen. »Selbstverständlich, Miss.«
Als sie losgingen, hielt er ihr sogar den Arm hin, aber Bast schlug das Angebot mit einem wortlosen Kopfschütteln aus. Das Wühlen und Reißen in ihrem Inneren hatte sich ein wenig beruhigt, aber sie wusste nicht, was passieren würde, wenn sie ihn wirklich berührte.
Sie passierten die Pubs und Lokale in raschem Tempo, und Bast ließ ihre Sinne vorsichtig schweifen. Wie sie erwartet hatte, spürte sie rein gar nichts von Isis' Nähe, was bedeutete, dass sie entweder nicht hier war oder sich überaus sorgsam abschirmte - das eine wäre ärgerlich, die zweite Möglichkeit höchst sonderbar und vielleicht sogar ein bisschen beunruhigend -, aber ihr allererster Eindruck von diesem Ort bestätigte sich noch. Auch wenn sie sich normalerweise hütete, solche Begriffe vorschnell zu benutzen: Dies hier war ein Sündenpfuhl, die britische Variante von Sodom und Gomorrha, und je länger sie lauschte, desto mehr stieß es sie innerlich ab. Bast war nicht prüde, und Lust oder auch nur Genüsslichkeit war ihr keineswegs fremd, ganz im Gegenteil. Aber das, was sie nun fühlte war ... anders. Dumpf, wie ein Geräusch, das man unter Wasser hörte und dem jede Höhe und jegliche Klarheit fehlte. Ihr war, als bewegte sie sich durch einen Sumpf, aus dem ein unsichtbares fauliges Gas sickerte, welches ganz langsam ihre Sinne zu verwirren begann.
Der Bobby blieb stehen. »Da wären wir.«
Mittlerweile hatten sie den hell erleuchteten Bereich der Straße hinter sich gelassen, und Bast sah erst jetzt, dass es auch hier Licht gab, auch wenn hier nur jede fünfte Laterne brannte ... und zwar genau jede fünfte, nicht ungefähr - was ganz gewiss kein Zufall war, sondern wohl eher eine Sparmaßnahme der Stadt, der die Sicherheit der Menschen in diesem Viertel nicht übermäßig am Herzen zu liegen schien.
Es war dennoch weder vollkommen dunkel noch gänzlich einsam. Hinter dem einen oder anderen Fenster brannte Licht, und obwohl sich Bast nun wohlweislich auf ihre - wenngleich sehr scharfen - rein menschlichen Sinne beschränkte, sah sie hier und da schattenhafte Bewegung, eine Gestalt in der Dunkelheit oder ein Huschen am Rande der dunstigen Lichthöfe, die die wenigen Straßenlaternen erzeugten, oder hörte Geräusche, die zumeist sehr eindeutig waren.
Sie befanden sich in der dunkleren und eindeutig billigeren Verlängerung der Straße, in der Arthur sie abgesetzt hatte, und das Haus mit der Nummer neunzehn - die im Übrigen tatsächlich nirgendwo zu lesen war - passte zu dieser Beschreibung: ein heruntergekommener unverputzter Ziegelsteinbau mit halb eingesunkenem Dach und Wänden, in denen sich längst der Schwamm eingenistet hatte. Die Fensterläden waren ausnahmslos geschlossen, ließen aber, so verrottet, wie sie waren, trotzdem das unstete rote Licht hindurch, das im oberen Geschoss des Hauses brannte. Das untere Stockwerk des Hauses war dunkel, und die wenigen Fenster waren roh mit Brettern vernagelt, und das allem Anschein nach schon seit Jahren. Eine schmale hölzerne Treppe mit einem Geländer, das ganz so aussah, als ob man es besser nicht als Stütze nehmen sollte, führte in halsbrecherischem Winkel nach oben und mündete vor einer Tür, die von zwei trübe glimmenden Gaslaternen flankiert und von einem vierschrötigen Kerl bewacht wurde, der selbst in der Dunkelheit und als bloßer Schatten beeindruckend wirkte.
»Was genau suchen Sie hier, Ma'am?«, erkundigte sich ihr unfreiwilliger Führer.
»Es ist gut, Konstabler«, antwortete sie. »Danke, dass Sie mich begleitet haben. Von hier aus komme ich allein zurecht.«
»Sind Sie sicher, dass ...«
»Ja, ich bin sicher«, unterbrach ihn Bast eine Spur schärfer. »Gehen Sie nach Hause und kümmern Sie sich um Ihre Frau und Ihre Kinder.«
Der Bobby sah sie noch einen halben Atemzug lang hoffnungslos verstört an und hatte es dann plötzlich sehr eilig, ihrem Befehl Folge zu leisten - denn um nichts anderes hatte es sich gehandelt. Wahrscheinlich würde er sich in den nächsten Tagen über sein eigenes Verhalten wundern. Aber er würde vermutlich auch nie begreifen, was für ein Glück er trotz allem gehabt hatte. Sie hätte ebenso gut auch dafür sorgen können, dass er plötzlich sein Interesse an dem einen oder anderen hübschen Knaben oder jungen Mann hier im East End entdeckte ...
Bast sah ihm nach, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, und gönnte sich für die gleiche Zeit den kleinen Luxus, weiter in bizarren Rachevorstellungen zu schwelgen. Das war zwar albern und tatsächlich nichts anderes als kindisch, aber es half, auch wenn sie solcherlei Vergeltungsfantasien nie nachgab ...
Nun ja. Höchst selten.
Wirklich nicht oft.
Bast lächelte noch einen Moment still in sich hinein, dann schüttelte sie die kindischen Gedanken endgültig ab und ging weiter.
Der Schatten oben am Ende der Treppe erwachte raschelnd aus seinem Dösen, als er ihr Nahen bemerkte, und Bast spürte, wie aufmerksam und bereit er plötzlich war; alles andere als der lustlos herumlungernde Türsteher, der nur die Minuten zählte, die er noch ausharren musste. Aber für ihn war sie schließlich auch nicht mehr als ein - beunruhigend großer - Schatten, der sich aus der Dunkelheit heraus auf ihn zubewegte.
Als sie die Treppe auf halbe Höhe erklommen hatte, trat er ihr bis an den Rand des kleinen Absatzes oben entgegen, und sie spürte, wie seine Aufmerksamkeit deutlicher Anspannung wich. »Kann ich etwas für Sie tun, Sir ...«, fragte er, stockte für einen Moment und verbesserte sich dann gleichermaßen irritiert wie überrascht, als ihr Gesicht in den Lichtschein der beiden kleinen Gaslaternen hinter ihm geriet: »... Ma'am?«
Bast setzte ihren Weg unbeeindruckt und ohne etwas zu sagen fort, und ganz wie sie erwartet hatte, blieb er nicht einfach stehen, bis er eine zufrieden stellende Antwort bekommen hatte, wie er es zweifellos bei jedem anderen getan hätte, sondern wich instinktiv zwei oder drei Schritte zurück, sodass sie sich auf gleicher Höhe gegenüberstanden, als auch Bast endlich stehen blieb. Wortwörtlich. Er war einer der wenigen Männer, die nicht nur ebenso groß waren wie sie selbst, sondern sie tatsächlich noch eine Winzigkeit überragte. Und er war unglaublich massig. Das allermeiste davon war Fett, und Bast hätte kein zweites Mal hinsehen müssen, um zu erkennen, dass der Bursche alles andere als gut in Form oder auch nur gesund war. Trotzdem war er ein Koloss, dessen bloßer Anblick sicherlich ausreichte, um die meisten zu beeindrucken.
»Ich bin auf der Suche nach jemandem«, antwortete Bast mit einiger Verzögerung. Sie lächelte, so freundlich sie nur konnte, was die Verwirrung ihres Gegenübers nicht unbedingt zu mindern schien. Er bewegte sich wieder einen halben Schritt auf sie zu oder versuchte es zumindest, hielt aber genauso schnell wieder inne und schien für einen Moment einfach nicht zu wissen, wie er reagieren sollte. Schließlich fuhr er sich mit dem Handrücken über das stoppelbärtige Doppelkinn und sagte: »Hier? Ich meine ... wissen Sie, wo Sie hier sind, Ma'am?«
Besonders das letzte Wort kam ihm sichtlich schwer über die Lippen, und obwohl Bast es schon unzählige Male erlebt hatte, amüsierte sie sich doch für einen Moment über den Ausdruck von Hilflosigkeit und Verwirrung auf seinen Zügen, die sicherlich noch ungleich größer gewesen wäre, hätte sein Stolz es zugelassen. Im allerersten Moment war er offensichtlich nicht ganz sicher gewesen, doch mittlerweile musste er nicht nur an ihrem Kleid und den Konturen darunter erkannt haben, dass er einer Frau gegenüberstand, wenn auch vielleicht der ungewöhnlichsten, die ihm je begegnet war. Es war nicht nur der Umstand, dass sie fast so groß war wie er und ihr Gesicht schwärzer als die Nacht, aus der sie aufgetaucht war, oder ihre ungewöhnliche Kleidung und ihre stolze Haltung. Tief in sich waren sie Seelenverwandte, das spürte Bast. Mochten sie auch äußerlich so gut wie nichts gemeinsam haben, so zählten sie doch beide nicht zu der Beute, sondern zu den Jägern, und er musste das ebenso deutlich spüren wie sie, auch wenn er mit diesem Gefühl zweifellos nichts anfangen konnte.