Aber Horus war nicht da, und als sie ihre geistigen Fühler ausstreckte, konnte sie ihn auch nirgends entdecken.
Sie beschleunigte ihre Schritte. Die Treppe nahm kein Ende, als hätte Horus seinen letzten Atemzug auf einen bösen Fluch verschwendet, der sie für immer in diesem feindseligen, kalten Gotteshaus gefangen halten würde, aber endlich trat sie wieder auf die Whispering Gallery hinaus ...
... und erstarrte.
Sie hatte sich getäuscht. Horus war nicht tot. Er war auch nicht irgendwo, er stand direkt unter ihr. Und er war nicht allein.
Gleich neben ihm stand eine zweite, deutlich kleinere, aber ebenfalls ganz in Schwarz gekleidete Gestalt, die aber anders als er keinen knöchellangen Mantel und Turban trug, sondern ein elegantes Cape und ein weißes Rüschenhemd mit dazu passender Fliege.
Es war, als hätte jemand ohne die geringste Vorwarnung einen Kübel Eiswasser über ihr ausgegossen.
Sie hatte nicht wirklich geglaubt, dass Abberline im Wagen bleiben und in aller Seelenruhe auf ihre Rückkehr warten würde, aber er hatte sich wirklich den allerschlechtesten aller nur denkbaren Augenblicke ausgesucht, um ihr zu Hilfe zu eilen. Er stand fast direkt unter ihr, und er war in einer irgendwie unnatürlich oder doch zumindest verkrampft wirkenden Haltung scheinbar mitten in der Bewegung erstarrt - was allerdings auch an dem gekrümmten Dolch liegen mochte, den Horus ihm gegen die Kehle presste.
Ihre Gedanken überschlugen sich, aber irgendwie schienen sie keine Zeit zu beanspruchen, und Bast setzte sich in Bewegung, noch während sie verzweifelt die Möglichkeiten erwog, die ihr blieben: Sie war schnell, aber nicht einmal annähernd schnell genug, um die Treppe hinabzustürmen und sich ernsthaft einzubilden, Abberline noch retten zu können, und sie hatte auch noch Abberlines Revolver, aber der Schusswinkel war ungünstig, und das Risiko, Abberline zu treffen statt Horus, einfach zu groß.
Also gut. Zeit, grob zu werden.
Sie sprang.
Mit einer einzigen, kraftvollen Bewegung flankte sie über die gemauerte Brüstung, zog noch im Sturz das Schwert und streckte die Beine gerade nach unten.
Sie hatte absolut kein Geräusch verursacht, allenfalls, dass er das Flattern ihres Mantels hören konnte, doch Horus schien im allerletzten Moment die Gefahr zu spüren, die auf ihn herabstürzte, denn er fuhr zusammen und warf mit einem Ruck den Kopf in den Nacken, und Bast sah nicht nur das pure Entsetzen in seinen Augen aufblitzen, sondern auch, wie sich die rasiermesserscharfe Klinge seines Dolches in Abberlines Kehle grub und hellrotes Blut über seinen Hals floss - dann prallten ihre Füße mit grauenhafter Wucht auf Horus' Schultern, und die Welt explodierte in einer weißen Lohe aus purer Agonie.
Ihre Beine brachen, nahezu explosionsartig und jedes an mehreren Stellen zugleich, und irgendetwas in ihrem Inneren zerriss mit einem noch viel schlimmeren, gleißenden Schmerz, aber sie konnte auch hören, wie Horus' Rückgrat nicht nur brach, sondern regelrecht pulverisiert wurde, und trotz der feurigen Lohe, die sie einhüllte und jede einzelne Zelle ihres Körpers in Brand zu setzen schien, registrierte sie, wie Horus mit einem sonderbar erstickten Laut und in einem noch viel sonderbareren und eigentlich vollkommen unmöglichen Winkel nach hinten kippte. Der Dolch flog aus seiner Hand und schlitterte klirrend davon, allerdings nicht, ohne sich zuvor tief in Abberlines Kehle gegraben und aus dem roten Strom einen sprudelnden Geysir gemacht zu haben. Dann schlug auch ihr eigenes Schwert - weit entfernt - auf dem Boden auf, und nur den Bruchteil eines Atemzuges später sie selbst, und wenn sie gedacht hatte, das bisher Erlebte wäre schlimm, so sah sie sich eines Besseren belehrt.
Alles wurde ... weiß.
Es war nicht so, dass sie das Bewusstsein verlor - obwohl sie es sich gewünscht hätte - oder nichts mehr sah, aber alles, was sie für endlose Sekunden wahrnahm, waren weiße Gespenster auf weißem Grund, kaum mehr als zuckende Umrisse, die einen grotesken lautlosen Tanz aufzuführen schienen. Und was sie sah, das war noch viel unglaublicher.
Horus war neben ihr zusammengebrochen, ein wimmerndes Bündel aus purer Pein, aber auch unbeschreiblicher Wut, das in einer vollkommen unmöglich verkrampften Haltung dalag und blindlings über den Boden tastete, aber da war auch Abberline, der trotz seiner durchschnittenen Kehle nicht nur immer noch auf den Beinen war, sondern sich suchend umsah, schließlich nach dem Schwert bückte, das Bast fallen gelassen hatte ...
Und Horus mit einem einzigen, gewaltigen Schwerthieb enthauptete!
Bast rechnete fest damit, allerspätestens jetzt das Bewusstsein zu verlieren, aber das genaue Gegenteil geschah: Ihre Gedanken klärten sich, und Farbe und Tiefe kehrten in das Bild vor ihren Augen zurück. Was ihr wie eine vollkommen absurde Vision vorgekommen war, entpuppte sich als Wirklichkeit: Sie lag noch immer auf dem Rücken, hilflos und gelähmt und mit zertrümmerten Beinen und etwas, das wie ein weiß glühendes Messer in ihren Eingeweiden wühlte, und Horus' kopfloser Leichnam lag so dicht neben ihr, dass sie ihn mit dem ausgestreckten Arm hätte berühren können. Wäre sie imstande gewesen, den Arm auszustrecken. Abberline stand noch immer breitbeinig über ihm, das Schwert in beiden Händen, und hellrotes Blut sprudelte in Strömen aus seinem Hals. Eigentlich musste er tot sein, aber das schien er nicht zu wissen. Vielleicht war er auch einfach nur zu stur, um es zuzugeben. Zuzutrauen wäre es ihm.
Bast blinzelte, versuchte sich hochzustemmen und bedauerte diesen Einfall sofort wieder, und mit einem gellenden Schrei. Wo ihre Beine sein sollten, war nur loderndes Feuer.
Etwas klirrte. Bast zwang sich, sich zu konzentrieren, blendete den Schmerz mit aller Willenskraft aus und öffnete nach einigen Sekunden und sehr viel langsamer noch einmal die Augen. Abberline hatte das Schwert fallen gelassen und war endlich auf die Knie hinabgesunken. Er hatte beide Hände gegen den Hals geschlagen und versuchte vergebens, den Blutstrom einzudämmen, der noch immer aus seiner durchschnittenen Kehle sprudelte. Aber er lebte immer noch. Er war zu stur, um zu sterben, dachte Bast hysterisch.
Und als wäre das noch nicht genug, löste er eine zitternde, mit hellrotem Blut besudelte Hand von seiner durchschnittenen Kehle und streckte sie nach ihr aus, obwohl er viel zu weit entfernt war, um sie zu berühren.
»Ist ... alles in Ordnung mit Ihnen?«, würgte er hervor.
Wahrscheinlich mehr als mit ihm, dachte sie verwirrt - aber trotzdem war sie es, die es eindeutig mehr Mühe kostete als ihn, zu sprechen.
»Nicht unbedingt, Inspektor«, krächzte sie. »Aber ich lebe noch.« Auch wenn sie sich beinahe wünschte, es wäre nicht so. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals etwas so Schlimmes erlebt zu haben ... aber eigentlich konnte sie sich auch nicht erinnern, jemals etwas so Dummes getan zu haben. Dass sie überhaupt noch lebte, glich einem Wunder.
Abberlines Gedanken mussten sich wohl auf ganz ähnlichen Pfaden bewegen, denn er hob mühsam den Kopf und blinzelte zu der Galerie hinauf. Bast erwartete, dass die Wunde an seiner Kehle weiter auseinanderklaffte und er endlich begriff, dass er eigentlich tot zu sein hatte, aber das genaue Gegenteil war der Falclass="underline" Die Wunde hintere schon nicht mehr so heftig wie bisher, und Rast sah, dass der Schnitt tatsächlich nur oberflächlich gewesen war; tief genug, um heftig zu bluten, aber nicht tief genug, um ihn umzubringen. Er hatte unglaubliches Glück gehabt, und wahrscheinlich würde er niemals begreifen, wie viel Glück.
»Unglaublich«, murmelte Abberline. Sein Blick irrte ununterbrochen zwischen Bast und der Galerie hin und her, ohne an einem von beidem wirklich Halt zu finden. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, aber es fällt mir schwer, es zu glauben. So einen Sprung ...«
»Da geht es mir ganz genauso«, antwortete Bast. Sie versuchte noch einmal, sich aufzurichten. Solange sie ihre Beine dabei nicht belastete, ging es. »Sie haben Horus getötet. Einen von uns.«