»Was bedeutet das, Mr Monro?«, fragte sie.
»Sie haben mich gebeten, einen sicheren Platz für Faye zu finden, und ...«
»Das meine ich nicht.« Bast deutete auf den Beamten, der beinahe schon das Ende des Ganges und damit die Treppe erreicht hatte. »Vor einer Minute hatte ich noch das Gefühl, dass Sie mich am liebsten verhaften würden.«
»Und wer sagt Ihnen, dass das jetzt anders ist?«, erwiderte Monro kühl, hob zugleich aber auch rasch die Hand, als sie antworten wollte. »Um ehrlich zu sein, ist mir immer noch danach. Aber bevor ich Ihre Frage beantworte, möchte ich, dass Sie mir eine Frage beantworten. Warum sind Sie zurückgekommen?«
»Um Faye zu holen«, antwortete Bast. »Sie muss hier weg. Sie ist in Gefahr. Verdammt, was soll diese Frage?«
»Wenn das tatsächlich wahr ist, dann muss Ihnen wirklich viel an dem Mädchen liegen«, antwortete Monro. »Oder Sie sind einfach dumm. Aber es fällt mir schwer, eines von beidem zu glauben.«
»Sir, dürfte ich erfahren, was das alles zu bedeuten hat?«, fragte Abberline in einem Ton, der allein vermutlich schon ausreichte, ihm eine Versetzung in ein Zweihundert-Seelen-Kaff in den schottischen Highlands zu garantieren.
Monro ignorierte ihn. Sein Blick lastete durchbohrend auf Bast, und sie sah nichts als pure Angst darin. Aber zugleich auch eine trotzige Entschlossenheit, mit der sie als Allerletztes gerechnet hatte.
»Bevor ich Ihre Frage beantworte, Miss Bast«, sagte er, »möchte ich, dass Sie Folgendes wissen: Ich habe meine Männer weggeschickt, um allein mit Ihnen zu reden, aber ich habe es nicht getan, ohne ihnen sehr präzise Anweisungen zu geben. Diese Anweisungen lauten wie folgt: Sollte mir etwas zustoßen, ganz egal was, so werden sie Sie auf der Stelle verhaften, und falls Sie Widerstand leisten, haben sie Befehl, Sie zu erschießen. Dasselbe gilt, wenn ich mich irgendwie sonderbar benehme. Darüber hinaus haben wir eine Parole vereinbart. Sollte ich sie nicht nennen, wird die Tür zum Zellentrakt nicht geöffnet, bevor Sie nicht in Ketten liegen oder tot sind.«
Bast blickte in ihn hinein und erkannte, dass er die Wahrheit sprach. Sie erkannte auch das Kennwort, das er mit seinen Männern vereinbart hatte, und noch ein weiteres, geheimes Zeichen, das sie ebenfalls ausgemacht hatten. Aber sie erkannte auch noch etwas, was sie zutiefst erschreckte und mit einem nicht mehr ganz unterdrückten Keuchen zu Mrs Walsh herumfahren ließ.
»Es ... es ist nicht meine Schuld, Bast«, sagte Mrs Walsh leise. »Ich konnte nichts tun. Sie ... sie waren ganz plötzlich da.«
»Wer war ganz plötzlich da?«, fragte Abberline alarmiert.
»Ich bin kein Mann, der sich erpressen lässt, Miss Bast«, fuhr Monro fort, als hätte er Abberlines Worte nicht gehört. Seine Augen waren noch immer voller Angst, aber sein Gesicht war zu einer Maske der Ausdruckslosigkeit erstarrt. »Sie haben gesagt, dass Sie das Mädchen fortbringen wollen, und ich gebe Ihnen diese Möglichkeit. Draußen wartet ein Wagen, der Sie zum Hafen bringen wird, und meine Männer werden sich davon überzeugen, dass Sie an Bord der Lady of the Mist gehen und England noch in dieser Nacht verlassen. Sollten Sie oder das Mädchen jemals wieder einen Fuß in dieses Land setzen, so werden Sie auf der Stelle verhaftet, ganz gleich, welche Konsequenzen es für mich persönlich haben sollte.«
Bast sah abermals in ihn hinein und erkannte, dass er log. Die Konsequenzen für ihn waren ihm alles andere als gleichgültig. Er hatte panische Angst vor einem Skandal. Aber noch mehr Angst hatte er davor, vielleicht den Rest seines Lebens erpresst zu werden ... oder auch nur in der Furcht zu leben, jemand könnte es tun. Was er über den Wagen erzählt hatte, entsprach der Wahrheit. Nur, dass sie zwar den Hafen, niemals aber das Schiff erreichen würden.
Als ob sie nicht schon genug Probleme hätte ...
»Und die Alternative?«, fragte sie.
Monro nickte Mrs Walsh zu.
»Sie ... sie sind gleich nach Ihnen gekommen, Bast«, sagte Mrs Walsh mit leiser, schuldbewusster Stimme. »Nur ein paar Minuten, nachdem Frederick und Sie fort waren. Wir ... konnten nichts tun. Es tut mir so leid.«
»Wer ist gleich nach uns gekommen, Gloria?«, fragte Abberline.
»Glauben Sie tatsächlich, ich wäre so naiv, Sie Dummkopf?«, fuhr ihn Monro an. »Ich weiß nicht, wie tief Sie in dieser Geschichte stecken, und welche Rolle Sie wirklich spielen, Inspektor, aber wenn ich Sie wäre, dann würde ich mir ernsthaft überlegen, mit an Bord des Schiffes zu gehen. Selbstverständlich habe ich Sie beschatten lassen, nachdem Sie die Wohnung dieses kleinen Flittchens verlassen hatten. Wie es der Zufall will, haben wir in Mrs Walshs Pension gleich ein halbes Dutzend Leichen gefunden.« Er machte eine herrische Geste, als Abberline etwas sagen wollte. »Mrs Walsh und Kapitän Maistowe haben mir erzählt, was passiert ist. Ich glaube ihnen. Ich bin bereit, diese fünf Toten zu vergessen - sofern Sie alle England noch in dieser Nacht verlassen.«
»Sie ... lassen uns gehen?«, murmelte Maistowe ungläubig.
»Warum nicht?« Monro machte ein abfälliges Geräusch. »Wegen dieser toten Schläger? Früher oder später wären sie wahrscheinlich sowieso umgebracht worden, und wahrscheinlich hätten sie vorher noch eine Menge Schaden angerichtet. Niemand wird diesen Subjekten auch nur eine Träne nachweinen. Ich ganz bestimmt nicht.«
»Was wollen Sie dann von uns?«, fragte Mrs Walsh. Sie klang ... verwirrt.
Monro sagte gar nichts, doch Abberline antwortete an seiner Stelle: »Fünf tote Zuhälter und ein ermordetes Mädchen, Gloria. Das reicht, um jeden Richter zu überzeugen.«
»Das sehe ich genauso«, sagte Monro ruhig. »Aber mir ist nicht an einem Skandal gelegen. Irgendetwas bleibt immer hängen, ganz egal, wie sauber man auch aus der Geschichte herauszukommen glaubt. Also?«
»Sie lassen uns ja wohl keine andere Wahl«, sagte Bast rasch. »Was sagst du dazu, Faye?«
Die letzten Worte hatte sie lauter ausgesprochen, obwohl es wahrscheinlich nicht nötig gewesen wäre. Sie hatten nicht gerade leise geredet. Und Faye trat auch prompt hinter ihm aus der offen stehenden Zellentür. Sie sagte kein Wort, und ihr Gesicht war mindestens so ausdruckslos wie das Monros selbst. Ganz ruhig trat sie auf ihren ehemaligen Onkel Munro zu, legte den Kopf in den Nacken, um ihm ins Gesicht zu sehen - und ohrfeigte ihn, zweimal und mit aller Kraft.
Monro nahm die Schläge ungerührt hin, obwohl Faye so fest zugeschlagen hatte, dass sich ihre Finger rot auf Monros Gesicht abzeichneten. »Ich nehme an, das bedeutet Ja«, sagte er ruhig.
Etwas kam. Bast spürte es so deutlich wie die Berührung einer eiskalten eisernen Hand, die ihre Seele streifte, ein Gefühl, das so intensiv und schrecklich war, dass sie wie unter einem Schlag zusammenfuhr und nicht einmal mitbekam, was Faye antwortete. Etwas Riesiges, unendlich Böses und Zerstörerisches raste heran, ein Ding aus reiner Gier und grundloser Mordlust, dessen bloße Nähe sie entsetzt nach Luft schnappen ließ. Es stürmte heran, schnell und unaufhaltsam wie eine Springflut aus schwarzem Wasser und Stein, deren bloßer Anblick sie vor Entsetzen schier erstarren ließ.
Eine Tür fiel ins Schloss, und hastige Schritte näherten sich, und vielleicht gerade weil das Geräusch schon beinahe lächerlich banal war, durchbrach es die Lähmung, die von Bast Besitz ergriffen hatte, und ließ sie herumfahren.
Eine rennende Gestalt näherte sich, schwarz gekleidet und mit wirbelnden Armen und weit nach vorne gebeugt, um nicht vom Schwung ihres eigenen Tempos von den Füßen gerissen zu werden. Es war der Konstabler, mit dem Monro zuletzt gesprochen hatte, und er musste etwas wirklich Wichtiges auf der Seele haben, denn er rannte, als ginge es um sein Leben.
Sie hatte sich getäuscht. Was immer sie gespürt hatte, schien von links zu kommen, aus der Richtung hinter Monro und Faye, aber dort war nichts, nur das Ende des Ganges und eine massive Wand - aber der Konstabler kam genau aus der entgegengesetzten Richtung gelaufen, mühsam um sein Gleichgewicht kämpfend. Und irgendetwas an ihm ... flackerte.