Seine Umrisse zerflossen, bildeten sich neu und kehrten dann in ihre ursprüngliche Form zurück, aber für einen unendlich kurzen Moment, den tausendsten Teil eines Blinzeins oder weniger, sah sie ihn so, wie er wirklich war, eine hoch gewachsene, schlanke Gestalt mit wallendem rotem Haar und flatterndem Mantel, die ein Schwert in jeder Hand hielt und mit gewaltigen Sätzen heranstürmte.
»Das ist Isis!«, schrie sie. Ihre Hand zuckte nach unten und griff nach dem Schwert, das nicht mehr da war, und selbst, wenn es anders gewesen wäre, hätte es ihr nichts mehr genützt. Isis raste heran, schnell wie das Licht und so zornig wie eine Naturgewalt, und die Wand von Fayes Zelle explodierte in einer Wolke aus fliegendem Stein und glitzernden Schuppen, und etwas Gigantisches, das nur aus Zähnen und Klauen und einem monströsen peitschenden Schwanz zu bestehen schien, brach aus dem gezackten Loch hervor und prallte mit solcher Gewalt gegen die gegenüber liegende Wand, dass das gesamte Gebäude in seinen Grundfesten zu erzittern schien.
Sobeks Drache war gekommen, um den Tod seines Herrn zu rächen.
Zwei, drei der fliegenden Steintrümmer trafen Monro und Faye, die noch immer vor der Tür der Zelle standen, und rissen sie von den Füßen, und auch Abberline schrie nur einen Sekundenbruchteil später auf und krümmte sich. Die pure Wucht, mit der das Ungeheuer gegen die Wand geprallt war, ließ Bast wanken und Mrs Walsh mit haltlos rudernden Armen gegen Maistowe prallen und ihn halbwegs von den Füßen reißen, und selbst Isis wankte und drohte aus dem Tritt zu kommen. Ihre Tarnung erlosch wie das Bild einer Laterna magica, deren Kerze der Sturm ausblies.
Der Einzige, der sich rasend schnell und ohne das geringste Zögern weiterbewegte, war der Drache. Weder der Umstand, dass die Zelle kaum ausreichte, um seinem gigantischen Leib Platz zu bieten, noch die unvorstellbare Gewalt, mit der er gegen die Wand geprallt war, machten ihn auch nur merklich langsamer. Mit einer schlangengleichen, fließenden Bewegung fuhr er herum, zertrümmerte die kärgliche Einrichtung der Zelle endgültig und stürzte auf die Tür zu. Sein gigantisches Maul schnappte nach Monro und Faye und verfehlte sie nur, weil das Ungeheuer einfach in der Tür stecken blieb, wie ein Korken in einem zu engen Flaschenhals.
»Bastet! Fang!«
Bast sah einen kupferfarbenen Blitz aus den Augenwinkeln heraus auf sich zufliegen, griff ganz instinktiv zu und spürte plötzlich das vertraute Gewicht eines Schwertes in ihrer Hand. Isis hatte ihr ihre zweite Waffe zugeworfen.
Sie verschwendete keine Zeit damit, über dieses unerwartete Geschenk nachzudenken. Mit einem einzigen Satz sprang sie über Monro und Faye hinweg, schwang die Waffe mit aller Gewalt und ließ sie auf die stumpfe Schnauze des Drachen niedersausen. Die Klinge prallte von den eisenharten Schuppen des Ungeheuers ab, ohne ihm sichtbaren Schaden zugefügt zu haben, aber offensichtlich hatte der Drache den Schlag zumindest gespürt, denn er ließ ein wütendes Zischen hören und warf sich zurück. Sein peitschender Schwanz, länger als ein Mann und mit mörderischen Knochenschuppen besetzt, schlug Steinsplitter und Funken aus den Wänden der Gefängniszelle, und seine schrecklichen Krallen zerfetzten den Türrahmen und rissen handlange, dünne, gebogene Metallstreifen aus der Tür.
Bast bückte sich blitzschnell, zerrte Monro auf die Füße und stieß ihn fort - nicht weil sie ihn so sehr in ihr Herz geschlossen hatte, sondern schlichtweg, weil er auf Faye lag - und bückte sich hastig, um auch Faye aus dem gefährlichen Bereich unmittelbar vor der Tür zu zerren.
Sie war nicht schnell genug. Ihr Hieb hatte den Drachen erst richtig wütend gemacht. Er warf sich ein weiteres Mal vor, diesmal mit solcher Gewalt, dass der Türrahmen wie morsches Holz splitterte und die komplette, schwere Eisentür einfach nach außen kippte, vielleicht nicht annährend so scharf, aber mindestens so tödlich wie eine Guillotine.
Durch nichts anderes als pures Glück entgingen Faye und sie dem niederkrachenden Zentnergewicht der Tür, aber hinter ihnen wütete der Drache heran. Die Öffnung, die er gewaltsam geschaffen hatte, war immer noch nicht groß genug für seinen monströsen Leib, aber sein gigantisches Maul schnappte in Basts Richtung, und sie wusste, dass sie ihm nicht mehr entgehen konnte.
Und dann war plötzlich Isis da, riss sie zurück und rammte ihr Schwert in das weit aufgerissene Maul des Ungeheuers.
Der Drache brüllte vor Wut und Schmerz, als die rasiermesserscharfe Klinge in das empfindliche Fleisch seines Gaumens biss, warf sich zurück und riss in seinem Toben ein weiteres, gewaltiges Stück aus dem Türrahmen. Ein faustgroßer Stein traf Bast an der Schulter und ließ sie taumeln. Trotzdem beugte sie sich weiter über Faye, um sie vor den fliegenden Steinbrocken und Trümmern zu schützen, und Isis holte zu einem zweiten, beidhändig geführten Schlag gegen die Schnauze des Ungeheuers aus, der die eisenharten Panzerschuppen spaltete und ihm eine tiefe, blutende Wunde zufügte.
Das riesige Krokodil brüllte vor Wut und Schmerz, bäumte sich in der winzigen Zelle auf und brach in einem gewaltigen Hagel aus Steinen und kochendem Staub auf den Gang hinaus.
Sein schuppiger Schwanz peitschte durch die Luft, traf Isis wie ein Keulenhieb an der Schulter und schleuderte sie meterweit davon. Bast wich den zuschnappenden Kiefern mit einer verzweifelten Bewegung aus und zerrte Faye auf die Füße, aber sie kam nicht einmal einen Schritt weit. Ein Krallenhieb traf sie am Oberschenkel und schleuderte Faye und sie abermals zu Boden. Schmerz explodierte in ihrer Seite. Faye schrie, und auch Mrs Walsh und Maistowe brüllten irgendetwas, aber sie verstand nichts davon, sondern warf sich schützend über das Mädchen und rollte eng an sie geklammert davon, bis sie gegen die rückwärtige Mauer des Ganges prallte.
Der Drache folgte ihnen, eine Wand aus Schuppen, Zähnen und mörderischer Wut, die sich mit unvorstellbarer Schnelligkeit bewegte. Irgendwie gelang es Bast, ihm das Schwert in die Kehle zu stoßen, aber ihre Kraft reichte nicht, um die zähen Panzerplatten des Ungeheuers ganz zu durchdringen. Die Bestie prallte mit einem wütenden Knurren zurück und schüttelte den mächtigen Schädel. Zähes, fast schwarzes Blut lief an ihrem Hals hinab und quoll aus ihrem Maul. Bast versuchte zurückzukriechen, aber hinter ihr war nichts mehr; nur noch Faye, die sie mit ihrem eigenen Körper gegen die Wand presste.
Als der Drache zu seinem letzten Angriff ansetzte, sprang Isis mit einem Satz auf seinen Rücken, schlang den linken Arm um seinen Hals und riss seinen Schädel mit einer unvorstellbaren Kraftanstrengung zurück, während sie ihm mit der anderen Hand das Schwert tief in den Nacken stieß.
Das Ungeheuer bäumte sich auf. Isis wurde davongeschleudert, riss Maistowe von den Füßen und schmetterte mit wirbelnden Armen und Beinen auch noch Mrs Walsh zu Boden, bevor sie meterweit entfernt mit grausamer Wucht gegen die Wand prallte und zusammenbrach.
Der Drache tobte, warf sich im Todeskampf hin und her und versuchte vergeblich nach dem Peiniger zu schnappen, der noch immer in seinem Nacken steckte und ihm so grausame Schmerzen zufügte. Seine Krallen pflügten fingertiefe Furchen in den Boden, und sein peitschender Schwanz zertrümmerte den Stein der Wände. Bast warf sich verzweifelt herum, presste Faye an sich und kroch auf Händen und Knien aus der Reichweite der tobenden Bestie. Erst dann ließ sie das Mädchen los, sprang auf und war mit einem einzigen Satz neben Isis.
Sie war bei Bewusstsein. Ihre Augen standen weit offen und waren voller Schmerz, und Bast spürte, wie schwer verletzt sie war, aber nicht so schlimm, dass sie sich Sorgen machen musste.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.
Isis verzog die Lippen. »Natürlich«, krächzte sie, hustete Bast ein paar Tropfen Blut ins Gesicht und fuhr sich anschließend angewidert mit dem Handrücken über das Kinn. Trotzdem fuhr sie fort: »Ich habe mich selten so wohl gefühlt, sieht man mir das etwa nicht an?«