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Bast schob die Arme unter ihren Körper und hob sie auf. Isis war genau so groß wie sie, aber es kam ihr vor, als wöge sie fast nichts.

Langsam drehte sich Bast herum und ging zu der leer stehenden verwüsteten Zelle zurück, ihre tote Schwester auf den Armen. Sie wartete auf die Tränen, die jetzt ihre Augen füllen sollten.

Aber sie kamen nicht.

EPILOG

Sie war mit einem Gefühl von Endgültigkeit in dieses Land gekommen, und sie verließ es mit dem sicheren Wissen desselben Gefühls. Es war nichts, was sie wirklich benennen konnte. Weder konnte sie es in Worte fassen, noch in Gedanken oder auch nur in Gefühlen beschreiben. Aber es war da; die absolute, vollkommene Gewissheit, dass etwas sehr Großes und Altes zu Ende gegangen war.

»Sie sehen traurig aus.«

Abberlines Stimme riss sie nicht nur aus ihren düsteren Überlegungen, sondern veranlasste sie auch dazu, ihn mit einem etwas aufmerksameren Blick zu mustern und für sich zu der Einschätzung zu gelangen, dass Abberline einen mindestens ebenso traurigen Anblick bieten musste wie sie: Sein rechtes Bein steckte in einem Gipsverband, und sein Fuß lag auf der Bank neben ihr, und sein linker Arm hing in einer Schlinge, um die verdrehte Schulter zu entlasten. Obwohl mehr als zwei Tage vergangen waren, war sein Gesicht auch noch immer so blass wie das eines Toten, sah man von der beeindruckenden Sammlung blauer Flecken und Kratzer und Hautabschürfungen ab, die es zierte. Bast überlegte ernsthaft, ob einige davon vielleicht von Monro stammten, verwarf diesen Gedanken dann aber als unrealistisch. Sie hatte Monro noch an diesem Morgen gesehen, und sein Gesicht war vollkommen unversehrt gewesen, sah man von dem Turban aus weißem Verbandsmull ab, den er so stolz wie ein alter Kämpe eine Kriegsverletzung trug. Wären die beiden tatsächlich aneinandergeraten, hätte sie vermutlich Mühe gehabt, ihn wiederzuerkennen.

»Traurig?«, antwortete sie mit einiger Verspätung und einem angedeuteten Kopfschütteln. »Nein. Warum sollte ich?«

»Weil Sie mich verlassen?«, schlug Abberline vor.

»Das hätten Sie gern, was?«

»Ja«, antwortete Abberline unverblümt. »Selbstverständlich hätte ich das gerne. Was haben Sie gedacht?« Er zog eine wehleidige Grimmasse. »Aber man bekommt nun einmal nicht immer, was man gerne hätte.«

Bast zog es vor, nicht darauf zu antworten, sondern drehte sich halb auf ihrem Sitz herum und sah aus dem Fenster. Die Droschke war schon vor gut fünf Minuten zum Stehen gekommen, und inzwischen hatten die Männer das wenige Gepäck, das sie mitgebracht hatte, längst entladen und an Bord des Schiffes gebracht. Eigentlich gab es keinen Grund mehr für sie, nicht auszusteigen.

»Wissen Sie, was ich noch sehr viel mehr wünschen würde?«, fragte Abberline, als sie nicht antwortete.

Bast riss ihren Blick mit einiger Mühe von der Silhouette des Schiffes los, in dessen Schatten die Droschke angehalten hatte, und sah ihn fragend an.

»Einen Abschiedskuss«, sagte Abberline.

Bast lächelte traurig. »Sie haben es gerade selbst gesagt, Inspektor - man bekommt nicht immer alles, was man sich wünscht. Und manchmal ist das gut so.«

»Weil ich weiß, welchen Preis ich dafür bezahlen müsste«, sagte Abberline traurig. »Ja, natürlich. Aber trotzdem ... wahrscheinlich bin ich tief in mir drin ein unverbesserlicher Abenteurer. Ich habe eine Menge über Patsys Todesküsse gehört, und ein Teil von mir fragt sich, ob es den Preis nicht lohnt.« Er bemerkte ihren Gesichtsausdruck, und sein Lächeln erlosch wie abgeschaltet. »Entschuldigen Sie.«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen«, sagte Bast. Aber es klang nach dem genauen Gegenteil, und offensichtlich nicht nur in ihren Ohren.

»Sie fehlt Ihnen, habe ich recht?«, fragte Abberline.

»Nein«, antwortete Bast, und zumindest in diesem Moment entsprach das sogar der Wahrheit. »Noch nicht.« Seit zwei Tagen wartete sie auf den Schmerz, der die Erkenntnis begleiten sollte, den einzigen Menschen verloren zu haben, der in ihrem Leben wirklich etwas bedeutet hatte. Bisher vergeblich. Aber sie wusste, dass er kommen würde. Und er würde lange dauern. Sehr lange. Selbst für ihre Verhältnisse.

»Das tut mir leid«, sagte Abberline. »Schmerz ist etwas Wichtiges, wissen Sie?«

Bast sah ihn einen Atemzug lang schweigend und ausdruckslos an - und dann lachte sie leise.

»Was ist so komisch?«, fragte Abberline missmutig.

»Oh, nicht viel«, antwortete Bast. »Abgesehen von der Tatsache, dass Sie versuchen, jemandem eine Lebensweisheit klar zu machen, der ungefähr zweihundert Mal so alt ist wie Sie, Inspektor.«

Abberline sah nun ehrlich verletzt aus, und Bast fuhr rasch fort: »Ich wollte Sie nicht beleidigen, Frederick. Bitte verzeihen Sie. Sie haben recht. Isis wird mir fehlen, und der Schmerz wird kommen. Und ich fürchte, er wird noch da sein, wenn es Sie schon lange nicht mehr gibt.«

»Ich verstehe«, sagte Abberline. Er wirkte nur noch verletzter, und Bast begriff, dass sie so ziemlich den falschestmöglichen überhaupt nur denkbaren Ton angeschlagen hatte. Aber es war zu spät, um es rückgängig zu machen. »Für Sie bin ich also nicht mehr als ein Kind.«

Bast überlegte eine Sekunde - und nickte. »Ja«, sagte sie. »Aber ein sehr nettes. Und jetzt muss ich gehen, fürchte ich. Mein Schiff wartet.«

Als wäre das ein Stichwort, auf das das Schicksal nur gewartet hatte, tauchte in diesem Moment eine schlanke Gestalt auf dem Kai auf, die sich mit schnellen Schritten der schmalen Planke näherte, die zum Deck der Lady of the Mist hinaufführte. Sie bewegte sich schnell und zielstrebig und würdigte die Kutsche nicht eines einzigen Blickes. Abgesehen von einem schmalen weißen Verband, der durchaus als modisches Halsband durchgehen mochte, und einem aus der Entfernung kaum zu erkennenden Pflaster an der rechten Seite ihres Kinns war ihr nichts mehr von den schrecklichen Ereignissen anzusehen, die sie erlitten hatte, aber Bast wusste nur zu gut, wie anders es in ihrem Inneren aussah. Sie würde lange brauchen, um das erlittene Grauen zu verarbeiten. Falls es ihr überhaupt jemals gelang.

Subjektiv, dachte Bast schaudernd, würde ihr Schmerz vielleicht länger andauern als ihr eigener.

»Ich könnte immer noch mit Ihnen kommen«, sagte Abberline. Immerhin war er hartnäckig, das musste sie ihm lassen.

»Wo Sie doch gerade erst von Monro persönlich zum Chefinspektor ernannt worden sind?« Bast schüttelte den Kopf. »Ich würde es mir nie verzeihen, Ihrer Karriere so im Wege gestanden zu haben, Frederick.«

Abberline zog eine Grimasse. »Die Beförderung ist noch nicht offiziell«, sagte er. »Jetzt, da James Munro Chef der Metropolitan Police geworden ist, kann er es sich leisten, großzügig zu sein. Es würde mich aber nicht wundern, wenn er vergisst, sie zu bestätigen.«

»Dann boxen Sie ihm einfach auf die Nase«, riet ihm Bast augenzwinkernd.

»Sie machen sich über mich lustig«, sagte Abberline.

»Ja«, antwortete Bast. »Was wäre das Leben ohne ein bisschen Spaß, oder?« Sie grinste ihn fröhlich an, aber schon im nächsten Moment konnte sie fühlen, wie ihr Lächeln erlosch und einem Ausdruck unbestimmter Sorge Platz machte. Sie fragte sich, warum sie eigentlich nicht ausstieg und an Bord ging. Die Lady war schon seit einer Stunde bereit zum Auslaufen und wartete nur noch auf sie.

»Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen?«, fragte Abberline.

»Wenn Sie nicht unbedingt auf einer Antwort bestehen.«

»Wie soll ich Sie in Erinnerung behalten«, wollte er wissen, »als Bastet oder als Sachmet?«