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Bast reagierte nicht sofort, sondern sah ihn eine Weile schweigend und noch immer von der gleichen, vagen Trauer erfüllt an. Dann beugte sie sich vor, nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn; zuerst sanft und zärtlich, nicht auf ihre Art, sondern einfach nur als Frau, die einen Mann küsst; dann aber erfüllte sie ihm seinen Wunsch. Natürlich nahm sie nicht viel - gerade genug, um ihn spüren zu lassen, was geschah, und um einen winzigen Teil von ihm in sich zu fühlen und mit sich nehmen zu können.

»Als Bast, Frederick«, flüsterte sie. »Einfach nur als Bast.«

Als sie Abberline losließ und aus der gleichen Bewegung heraus die Tür der Kutsche öffnete, sah sie nichts als einen Ausdruck tiefer Verblüffung auf seinem Gesicht.

»Bast, wir ...«, murmelte er. »Aber wir ... wir könnten doch ...«

»Vielleicht ein andermal, Frederick«, sagte sie augenzwinkernd. »Vielleicht, wenn es Sie irgendwann doch einmal nach Ägypten verschlagen sollte. Sie wissen ja: von Kairo aus gleich hinter der ersten Düne links.«

Und damit wandte sie sich mit einem Ruck ab und ging mit schnellen Schritten und ohne noch ein einziges Mal zurückzublicken über den Kai und die schmale Planke hinauf. Das nasse Holz vibrierte fühlbar unter ihrem Gewicht, und nun fühlte sie auch das sanfte Schaukeln des Schiffes, das nur noch von einem einzigen Tau gehalten am Pier lag.

Maistowe, der bisher vollkommen reglos hinter der Reling gestanden und darauf gewartet hatte, dass auch sie endlich an Bord kam, wandte sich mit einem Ruck um und begann seinen Männern Befehle zuzubrüllen, und Bast trat mit zwei schnellen abschließenden Schritten auf das Deck der Lady hinauf, damit die Matrosen die Planke einziehen konnten. Das letzte Tau wurde gekappt, und das Schiff schien unter ihren Füßen zu erzittern wie ein Gepard, dessen Halsband endlich gelöst worden war, sodass er in sein angestammtes Element zurückkehren konnte.

Als Bast sich herumdrehte, sah sie eine schlanke Gestalt unter Deck verschwinden.

Faye wich ihr nicht nur aus, sondern floh regelrecht vor ihr, und Bast musste ihr Gesicht nicht sehen, um die Angst in ihren Augen zu spüren. Sie hatte versucht, dem Mädchen die schlimmste Furcht zu nehmen, aber bisher hatten sie ihre sonst so verlässlichen Kräfte im Stich gelassen, und sie hatte nur die Wunden heilen können, die ihr Körper davongetragen hatte, nicht die so viel tiefer gehenden Verletzungen ihrer Seele.

Immerhin hatte Maistowe ihren Blick registriert und kam auf sie zu, wenn auch zögernd und mit allen Anzeichen des Unbehagens. Auch der Ausdruck in seinen Augen hatte sich verändert. Sie war dankbar, zumindest keine Angst darin zu erkennen, doch an ihrer Stelle war jetzt eine Scheu, die sie auf ihre Art fast genauso schmerzte. Es würde wohl eine sehr einsame Reise werden.

»Sind Sie so weit?«, fragte er, was eigentlich vollkommen überflüssig war. Das Schiff hatte bereits abgelegt und entfernte sich fast unmerklich von der Kaimauer. Er war befangen und wollte einfach irgendetwas sagen, und auch diese Erkenntnis schmerzte Bast. Seit sie ihn kannte, hatte sie sich gegen seine mehr oder weniger offenen Annäherungsversuche zur Wehr setzen müssen. Jetzt hatte er eine Mauer zwischen ihnen errichtet, die nicht einmal sie niederreißen konnte. Sie war auch nicht sicher, ob sie es überhaupt versuchen sollte.

Fast so unbeholfen wie er gerade fragte sie: »Bekomme ich meine alte Kabine zurück, oder haben Sie sie Faye gegeben?«

»Sie bewohnt meine Kajüte«, antwortete Maistowe. »Ich wohne für die Dauer der Überfahrt bei meinen Offizieren. Es ist nicht das erste Mal, keine Sorge. Sie behalten Ihre gewohnte Kabine.«

»Und den gewohnten Luxus?«, stichelte Bast gutmütig.

»Selbstverständlich«, antwortete Maistowe ernst. »Es sei denn, Sie bestehen darauf, bei dem Mädchen zu bleiben.«

Bast zog es vor, die Spitze zu ignorieren. »Sie sind sicher, dass Sie Faye mitnehmen wollen?«, fragte sie stattdessen. »Es wird nicht ganz so leicht werden, wie es mit ...« Sie zögerte fast unmerklich, den Namen auszusprechen, um ihm nicht noch mehr Schmerz zuzufügen. »... Cindy geworden wäre.«

Zu ihrer Überraschung lachte Maistowe, wenn auch leise, und nur ganz kurz. Es klang eher wie ein Bellen. »Ich bin mir ganz und gar nicht sicher«, sagte er, aus irgendeinem Grund anscheinend über ihre Frage amüsiert. »Aber Sie haben es selbst gesagt: Sie kann nicht in England bleiben ... und sie will bei mir bleiben, zumindest für eine Weile.« Er schien etwas in ihrem Blick zu registrieren, dessen sie sich selbst nicht bewusst gewesen war, denn er schüttelte plötzlich den Kopf, und ein zorniger Schatten huschte über sein Gesicht. »Keine Sorge. Ich rühre sie nicht an.«

Diese Worte wären nicht nötig gewesen, dachte Bast traurig. Jede Frau auf der Welt, aber ganz bestimmt nicht Faye.

»Sie müssen England in sehr schlechter Erinnerung behalten«, sagte er plötzlich.

»Nein«, antwortete Bast sanft. Sie wusste genau, was er meinte. »Warum sollte ich? Was geschehen ist, war nicht Ihre Schuld, Jacob.«

»Nein, vermutlich nicht«, antwortete er leise und ohne sie anzusehen. »Aber nichts von alledem wäre passiert, wenn ich Sie nicht überredet hätte, mich zu Gloria zu begleiten.«

Das also war es, was er von ihr wollte, dachte Bast. Er erwartete Absolution von ihr - und warum auch nicht? Sie vergab sich nichts dabei, außerdem war es die Wahrheit. Und wenn man es genau nahm, dann griff sein Argument andersherum genauso: Nichts von alledem wäre passiert, wäre sie erst gar nicht in dieses Land gekommen.

Aber da war ein Gedanke, der sie seit nunmehr zwei Tagen plagte. Sie hatte niemals endgültig eine Antwort auf die Frage gefunden, warum sie eigentlich hierhergekommen war, in dieses kalte graue Land voller feindseliger Menschen. Aber was, wenn sie gar nicht aus eigenem Antrieb gekommen war, sondern irgendjemand - irgendetwas - sie geschickt hatte? Was, wenn der einzige Grund für ihr Hiersein der gewesen war, Zeugin zu werden, wie eine verrückte alte Frau drei leibhaftige Götter besiegte?

»Es war nicht Ihre Schuld, Jacob«, sagte sie sanft. »Ohne Sie wäre ich jetzt vielleicht auch tot und Faye und Frederick ebenfalls. Wie hätten Sie es wissen können? Sie hat ja sogar mich getäuscht, obwohl ich ihre Gedanken lesen konnte. Niemand konnte es wissen.«

Maistowe schien etwas darauf erwidern zu wollen, aber dann beließ er es bei einem traurigen Blick und einem noch traurigeren Kopfschütteln und ging ohne ein weiteres Wort.

Und damit hätte es vorbei sein können. Die Lady of the Mist zitterte und knarrte heftiger unter ihren Füßen und drehte sich jetzt immer schneller von der Kaimauer weg, und Bast wollte sich schon umwenden und in ihre winzige, übel riechende Kabine unter Deck gehen, als eine Bewegung am Himmel über der Stadt ihre Aufmerksamkeit noch einmal erregte.

Im allerersten Moment war es nur ein winziger Punkt, weniger als ein Schatten, der über den trüben Himmel von London glitt, aber er wuchs rasch heran und wurde binnen eines einzigen Augenblickes zu einem pfeilflügeligen schwarzen Umriss, der mit einem schrillen Kreischen auf sie herabzuschießen schien.

Aber er war nicht allein.

Ein zweiter Schemen gesellte sich zu ihm, dann ein dritter und vierter, größer und dunkler als Horus' Falke, schwarze Ungeheuer mit noch schwärzeren Augen und gebogenen Schnäbeln und einem Gefieder, das dunkel und hart glänzte wie geschmiedetes Eisen. Und sie stießen erbarmungslos auf ihn herab.

Bast blieb stehen und sah in den Himmel hinauf, während die drei Tower-Raben den Horus-Falken in Stücke rissen, und erst dann, als endlich Stille war, wandte sie sich endgültig um und steuerte ihre Kabine an.

Jetzt wusste sie, was das Gefühl der Endgültigkeit bedeutet hatte.

Aber es war gut so.