Eine Wand des AUGL-Tanks war durchsichtig und gab den Blick auf einen Verbindungskorridor frei, der zu einer provisorischen Krankenstation umfunktioniert worden war. DBLF-Raupen lagen in Betten, die eine Seite des Flurs einnahmen. Dabei wurden die bedauernswerten Geschöpfe durch schwere und willkürlich auftretende Fluktuationen in den Schwerkraftgittern abwechselnd brutal in den Schaumstoff gepreßt oder in die Luft gestoßen. Um die Patienten herum waren in aller Eile Netze gespannt worden, damit sie nicht von den Liegen fallen konnten. Und trotz der Erschütterungen, denen sie ausgesetzt waren, zählten sie sogar noch zu den Glückspilzen im Hospital.
Irgendwo wurde eine Station evakuiert, und durch den von Conway einzusehenden Abschnitt des Korridors krabbelte, hüpfte und schlängelte sich eine Prozession von Geschöpfen, die wie der Inhalt einer kosmischen Arche Noah anmutete. Zusammen mit vielen anderen Spezies waren sämtliche sauerstoffatmenden Lebensformen vertreten, wobei der Zug von terrestrischen Monitoren, Pflegern und Schwestern betreut wurde. Anscheinend hatte das Pflegepersonal die Erfahrung gemacht, daß schon bloßes Stehen oder aufrechtes Gehen Knochenbrüche verursachen konnte, weil alle auf Händen und Knien krochen. Wenn sie von einer plötzlich auftretenden Schwerkraftschwankung von beispielsweise zwei auf vier Ge erfaßt wurden, fielen sie auf diese Weise wenigstens nicht so tief. Wie Conway zudem erkennen konnte, trugen die meisten von ihnen zwar G-Gürtel, sie hatten aber erkannt, daß diese Geräte unter Bedingungen, wo die Schwerkraftkonstante zu einer unberechenbaren Variablen wurde, nutzlos waren.
Er sah PVSJs, die in ballonartige, mit Chlor gefüllte Hüllen eingewickelt waren und entweder wie Schmetterlinge unter Glas flach gegen den Boden gepreßt oder in die Höhe katapultiert wurden. Tralthanische Patienten wurden in ihrem massiven und starren Geschirr — Tralthaner neigten trotz ihrer enormen Kräfte zu inneren Verletzungen — mühsam mitgeschleppt. Es gab DBDGs, DBLFs und CLSRs, sowie nichtidentifzierbare Wesen in kugelförmigen Rollcontainern, von denen fast sichtbare Kälte ausgestrahlt wurde. In einem endlos scheinenden Zug krochen diese bedauernswerten Geschöpfe dahin, wobei sie gezogen oder geschoben wurden oder sich aus eigener Kraft beherzt Stück für Stück fortbewegten. Und während die Schwerkraftgitter an ihnen zerrten, beugten sie sich nach unten und richteten sich wieder auf wie wogende Halme im Sturm.
Conway bildete sich schon fast ein, diese Gravitationsschwankungen selbst zu verspüren, wußte aber, daß dort, wo er sich befand, das Schiff die Stromzufuhr der Gitter zerstört haben mußte. Nur mit Gewalt konnte er sich vom Anblick dieser grauenhaften Prozession losreißen, dann aber setzte er mit dem PVSJ seinen Weg nach unten fort.
„Conway!“ dröhnte kurz darauf Mannons Stimme in seinem Kopfhörer. „Dieser Überlebende da unten ist mittlerweile für genauso viele Opfer verantwortlich wie das Unglücksschiff selbst! Eine komplette Station mit rekonvaleszenten LSVOs ist tot, und zwar wegen eines dreisekündigen Schwerkraftstoßes von ein achtel auf vier Ge. Was machen Sie gerade?“
Conway berichtete, daß der vom Wrack geschlagene Tunnel immer enger werde, da der Rumpf und die meisten Aufbauten des Schiffs schon lange vor der Stelle, an der sie sich gerade befanden, abgetrennt worden waren. Vor ihnen könnten sich nur noch massive Wrackteile wie die Generatoren für den Hyperantrieb und dergleichen befinden. Außerdem glaube er, sich dem Ziel ziemlich weit genähert zu haben und somit auch dem Wesen, das der unwissentliche Verursacher für all die Verwüstungen um sie herum war.
„Gut“, sagte Mannon, „aber beeilen Sie sich!“ „Aber könnten nicht die Ingenieure durchkommen? Wenn sie.“
„Das klappt nicht“, unterbrach ihn Dr. Lister. „In der näheren Umgebung der Steueranlage für die Schwerkraftgitter herrschen Gravitationsfluktuationen von bis zu zehn Ge! Es ist unmöglich. Und aus dem Innern des Hospitals an Sie heranzukommen, scheidet auch aus. Dazu müßten sämtliche Korridore evakuiert werden, doch die sind mittlerweile mit Patienten völlig überfüllt.“ Die Stimme wurde leiser, als sich Dr. Lister offensichtlich vom Mikrofon abwandte, und Conway bekam zufällig mit, als er sagte: „Ein intelligentes Wesen kann doch nie und nimmer derart in Panik geraten, daß es. daß es. oh, wenn ich dieses Biest in die Hände kriege, dann.“
„Vielleicht ist es gar nicht intelligent“, wandte eine andere Stimme ein. „Möglicherweise ist es ein Sprößling von der FGLI-Kinderstation.“
„Wenn es so ist, werde ich ihm das kleine Fell gerben, bis es.“
An dieser Stelle wurde der Funkkontakt unterbrochen, und ein scharfes Klicken beendete die Konversation. Plötzlich wurde Conway bewußt, wie wichtig er in diesem Augenblick für das Fortbestehen des Orbit Hospitals geworden war, und er tat alles, um noch schneller voranzukommen.
Eine Ebene tiefer gelangten Conway und der PVSJ auf eine Station, in der vier MSVKs — empfindliche, dreibeinige Wesen, die an Störche erinnerten — leblos zwischen losen Gerätschaften herumschwebten. Die Bewegungen der Körper und Gegenstände im Raum wirkten ein wenig unnatürlich, als wären sie gerade erst ausgelöst worden. Hierbei mußte es sich um den ersten Hinweis auf den geheimnisvollen Überlebenden handeln, nach dem sie suchten.
Danach befanden sie sich in einem großen Raum mit Metallwänden und waren von einem Labyrinth aus Rohren und unverkleideten Maschinen umgeben. In einer von ihm selbst verursachten Bodenmulde lag der gewaltige Hyperantriebsgenerator des Wracks, der von überall verstreuten Einzelteilen diverser Ausrüstungsgegenstände des Kontrollraums umgeben war. Darunter waren die sterblichen Überreste eines jetzt nicht mehr einzuordnenden Aliens zu sehen. Neben dem Generator war durch ein anderes Teil der schweren Schiffsausrüstung ein weiteres Loch in den kritisch nachgebenden Boden gerissen worden.
Als Conway durch die Öffnung hindurchschaute, rief er aufgeregt: „Da unten ist es!“
Sie blickten in einen riesigen Raum, der nur das Gravitationskontrollzentrum sein konnte. An Boden, Wänden und Decke befand sich eine Reihe kompakter Metallkästen neben der anderen — in diesem Abschnitt herrschten stets Luftleere und null Ge —, und für terrestrische Ingenieure war kaum Platz, sich dazwischen zu bewegen. Aber Ingenieure wurden hier nur selten gebraucht, weil sich die Geräte in dieser lebenswichtigen Abteilung selbst reparieren konnten. Diese Fähigkeit wurde im Augenblick allerdings einem ernsthaften Härtetest unterzogen.
Ein Wesen, das Conway auf den ersten Blick als AACL einstufte, breitete sich über drei der empfindlichen Kontrollkästen aus. Neun andere Kästen, deren rote Notleuchten blinkten, lagen in Reichweite der sechs pythonartigen Tentakel, die aus 1den abgedichteten Öffnungen eines milchigen Plastikanzugs hervorragten. Die Tentakel waren wenigstens sechs Meter lang und an der Spitze mit einer hornartigen Substanz versehen, die, dem vom Alien angerichteten Schaden nach zu urteilen, stahlhart sein mußte.
Conway hatte sich zuvor innerlich darauf eingestellt, Mitleid für diesen vom Schicksal arg gebeutelten Überlebenden zu empfinden, und erwartet, eine verletzte, von Panik ergriffene und vor Schmerz wahnsinnig gewordene Kreatur vorzufinden. Doch statt dessen war da ein Wesen, das unverletzt schien und nichts Besseres vorhatte, als mit aller Gewalt den Gravitationskontrollmechanismus schneller zu zerstören, als die eingebauten Roboter ihn zu reparieren vermochten. Conway fluchte und begann, nach der Funkfrequenz des Aliens zu suchen. Plötzlich vernahm er ein grelles Piepsen im Kopfhörer.
„Hab ich dich endlich.“ murmelte er grimmig.
Das Piepsen hörte schlagartig auf, als das krakenähnliche Wesen Conways Stimme vernahm, und die Tentakel stellten ihr vernichtendes Werk ein. Conway merkte sich die Wellenlänge, dann schaltete er wieder auf die Frequenz, über die er mit dem PVSJ sprechen konnte.