Im nachhinein wünschte sich Conway, er hätte den Helm geöffnet und allem ein Ende gesetzt, bevor diese Ingenieure in den Kontrollraum ausgeschwärmt waren und Williamson und ihn herausgeholt hatten. O’Mara mußte verrückt sein — schließlich hatte er, Conway, das oberste Gebot seines Berufsstandes verletzt und ein intelligentes Lebewesen getötet. Was also war gut daran?
„Hören Sie mir bitte zu“, fuhr O’Mara ernst fort. „Die Fachleute aus der Funkzentrale haben es geschafft, ein Bild vom Kontrollraum des Unfallschiffs mitsamt seines Insassen zu empfangen, bevor es aufgeschlagen ist. Der Insasse war kein AACL, verstehen Sie? Dieses Wesen war ein AMSO, eine der größeren nichtintelligenten Lebensformen, die einem AACL als Haustier dienen. Außerdem sind derzeit überhaupt keine AACLs im Hospital angemeldet. Das Biest, das Sie getötet haben, war also im übertragenen Sinne nichts anderes als ein vor Angst verrückter Hund in einem Schutzanzug.“ O’Mara schüttelte Conway die Schultern, bis dessen Kopf wackelte. „Fühlen Sie sich jetzt etwas besser?“
Conway spürte, wie er allmählich wieder in die Realität zurückkam, und nickte wortlos.
„Sie können jetzt gehen“, sagte O’Mara lächelnd. „Schließlich haben Sie einigen Schlaf nachzuholen. Und was das Neuorientierungsgespräch angeht, das ich neulich erwähnt hab, so hab ich dafür vorerst leider keine Zeit mehr. Aber erinnern Sie mich bitte irgendwann daran. das heißt, falls Sie so ein Gespräch Ihrerseits überhaupt noch für notwendig halten.“
Während der vierzehn Stunden, die Conway schlief, reduzierte sich die Einlieferung von Verwundeten auf eine zu bewältigende Anzahl, und es traf die Nachricht ein, daß der Krieg vorüber sei. Monitoringenieure und Wartungsmonteure konnten erfolgreich die Wrackteile ausräumen und auch die beschädigte Außenhülle reparieren. Bei wiederhergestellten normalen Druckverhältnissen gingen die inneren Reparaturarbeiten zügig voran. Als Conway wach geworden war und sich auf die Suche nach Dr. Mannon begab, sah er, wie Patienten bereits wieder in einen Abschnitt verlegt wurden, der noch vor ein paar Stunden ein einziges dunkles und luftleeres Chaos aus Wrackteilen gewesen war.
Seinen Vorgesetzten traf er schließlich in einem seitlichen OP-Trakt der FGLI-Unfallstation an. Mannon operierte gerade einen DBLF mit starken Verbrennungen, dessen raupenartiger Körper auf einem OP-Tisch, der eigentlich für tralthanische FGLIs gedacht war, fast zwergenhaft wirkte. Zwei weitere DBLFs, die noch unter Narkose standen, sahen auf einer ähnlich übergroßen Liege an der Wand wie weiße Häufchen aus, und ein vierter lag zuckend auf einer Tragbahre in der Nähe der Tür.
„Wo, zum Teufel, haben Sie gesteckt?“ fragte Mannon mit einer Stimme, die viel zu müde war, um wütend zu klingen. Noch bevor Conway antworten konnte, fuhr er ungeduldig fort: „Ach, Sie brauchen mir gar nichts zu erzählen. hier schnappt doch jeder dem anderen nach Belieben seine Mitarbeiter weg, und Assistenzärzte müssen eben tun, was man ihnen sagt.“
Conway merkte, wie er errötete. Plötzlich schämte er sich, vierzehn Stunden lang geschlafen zu haben, war aber zu feige, Mannons falsche Annahme richtigzustellen. Statt dessen fragte er nur: „Kann ich Ihnen helfen, Sir?“
„Ja“, murmelte Mannon und deutete auf seine Patienten. „Aber es handelt sich um ziemlich heikle Geschichten. Tiefe Platz— und Schnittwunden. Metallstücke nund — splitter im Körper,
Bauchhöhlenverletzungen und starke innere Blutungen. Ohne ein Schulungsband werden Sie hier wohl kaum etwas ausrichten können. Gehen Sie und trichtern Sie es sich ein. Danach kommen Sie sofort wieder hierher, klar?“
Einige Minuten später war Conway im Schulungsraum neben O’Maras Büro und nahm das DBLF-Physiologieband in sich auf. Dieses Mal zuckte er nicht zusammen, als die Hände des Monitors seinen Kopf berührten, und als ihm das Stirnband mit den Elektroden abgenommen wurde, fragte er: „Wie geht es Ihrem Korpsmitglied Williamson?“
„Er wird durchkommen“, antwortete O’Mara unbeteiligt. „Die Frakturen mußten extra von einem Diagnostiker gerichtet werden. Aber Williamson wird ganz sicher nicht sterben.“
Anschließend begab sich Conway so schnell wie möglich wieder zu Mannon. Er erfuhr wieder diese typische innere Verwandlung, als verkörpere er zwei Lebewesen in einem, und mußte dem Drang widerstehen, auf dem Bauch zu kriechen. Jedenfalls wußte er nun, daß das DBLF-Band seine Wirkung nicht verfehlt hatte. Stoffwechsel und Temperament der raupenähnlichen Bewohner von Kelgia waren fast genauso wie beim Menschen, so daß er mit der Umstellung weit weniger Schwierigkeiten hatte als zuvor mit dem Telfiband. Aber es zwang ihm eine Art Verbundenheit mit den Wesen auf, die er behandelte, und das war in diesem Fall durchaus schmerzvoll.
Das konzeptionelle Zusammenwirken von Pistole, Kugel und Ziel ist sehr einfach — anvisieren, abdrücken und das Ziel, das Opfer, ist tot oder verwundet. Die Kugel denkt überhaupt nicht nach, der Schütze nicht genug, und das Ziel. nun, das Opfer ist immer der Leidtragende.
Conway hatte in letzter Zeit zu viele Opfer gesehen und auch Geschosse, die sich in sie gebohrt und im zerfetzten Fleisch rote Krater hinterlassen hatten, die Knochen zerschmettert und Blutgefäße zerrissen hatten. Hinzu kam noch der lange und schmerzhafte Genesungsprozeß des Opfers. Ein jeder, der einem denkenden und fühlenden Wesen solchen Schaden zufügte, verdiente eine weit schmerzhaftere Strafe als das Korrektiv einer psychiatrischen Behandlung seitens der Monitore.
Vor ein paar Tagen hätte sich Conway solcher Ansichten noch geschämt — davon war jetzt aber kaum noch etwas zu verspüren. Er fragte sich, ob die letzten Ereignisse bei ihm einen Prozeß moralischer Entartung ausgelöst hatten oder ob es einfach nur daran lag, daß er allmählich erwachsen wurde.
Fünf Stunden später waren sie fertig. Mannon gab der Schwester die Anweisung, die vier Patienten im Auge zu behalten, bat sie aber, zuvor etwas zum Essen zu holen. Als sie mit einem großen Paket Sandwiches zurückkam, berichtete sie, daß die Kantine von einem tralthanischen Arzt in einen Operationssaal umgewandelt worden sei. Kurz darauf schlief Dr. Mannon mitten über seinem zweiten Sandwich ein. Conway lud ihn auf eine Bahre und brachte ihn in dessen Zimmer. Unterwegs wurde er von einem tralthanischen Diagnostiker abgefangen, der ihn auf eine DBDG-Unfallstation beorderte.
Dieses Mal hatte er es mit Opfern seiner eigenen Spezies zu tun, und sein Reifeprozeß — oder moralischer Entartungsprozeß — machte Fortschritte. Allmählich kam er zu der Ansicht, daß das Monitorkorps mit einigen Leuten viel zu sanft umging.
Drei Wochen später hatte sich die Situation im Orbit Hospital fast wieder normalisiert. Außer den in Todesgefahr schwebenden Schwerverletzten waren sämtliche Patienten in Hospitale ihrer Heimatplaneten gebracht worden. Der Schaden, den das Unfallschiff verursacht hatte, war behoben worden. Der Arzt hatte die Kantine wieder geräumt, und Conway mußte sich das Essenstablett nicht mehr aus zusammengestellten Instrumentenwagen nehmen. Aber auch wenn sich die Situation im Hospital im großen und ganzen etwas normalisiert hatte, so traf dies auf Conway persönlich überhaupt nicht zu.
Er war nämlich vom Stationsdienst völlig befreit worden und nahm nun in einer gemischten Gruppe von Menschen und Extraterrestriern — von denen die meisten älter als er waren — an einem Kurs in Schilfsrettung teil. Einige der Probleme, die bei der Bergung Überlebender aus Schiffswracks auftauchen konnten, besonders wenn die Energieversorgung an Bord noch funktionierte, öffneten Conway die Augen. Der Kurs endete mit einer interessanten, wenn auch kräftezehrenden Übung, die er allerdings erfolgreich absolvierte, worauf sich noch ein intellektuell etwas abgehobener Kurs über vergleichende ET-Philosophie anschloß. Parallel dazu liefen Lehrgänge über Verseuchungsgefahren: Was war zu tun, wenn auf der Methanstation ein Leck entstand und die Temperatur über den Siedepunkt von minus 161 Grad Celsius anzusteigen drohte? Was war zu tun, wenn ein Chloratmer Sauerstoff ausgesetzt wurde oder ein Wasseratmer in Luft zu ersticken drohte oder umgekehrt. Allein bei der Vorstellung, daß ihn der eine oder andere der Kursteilnehmer künstlich zu beatmen versuchen könnte, schauderte es Conway — einige wogen mehr als eine halbe Tonne! — , aber glücklicherweise gab es zum Abschluß dieses Lehrgangs keine praktischen Übungen.