Über und unter ihm und zu allen Seiten schwebten bis zu einer Entfernung von fünfzehn Kilometern Teile des Hospitals, die man nicht hätte sehen können, wären nicht die hellen blauen Warnleuchten gewesen, die man eigens für den Schiffsverkehr in dieser Region überall angebracht hatte. O’Mara hatte fast das Gefühl, als befände er sich im Zentrum eines dichten, kugelförmigen Sternhaufens; eigentlich eine angenehme Vorstellung, wenn man die entsprechende Genießerlaune dazu hatte. Ihm war aber nicht danach zumute, denn auf fast sämtlichen dieser schwebenden Unterabschnitte hielten Pressorstrahlentechniker Wache, die dort stationiert waren, um eventuell drohende Kollisionen von Sektionen abzuwenden.
Und selbst wenn er lediglich vorgehabt hätte, das Alienbaby nur zum Füttern nach draußen zu bringen, würden es diese Männer mitbekommen und Caxton sofort davon berichten.
Anscheinend waren Nasenpfropfen die einzige Lösung, dachte er angewidert, während er sich auf den Rückweg machte.
In der Schleuse wurde er von einem Lärm empfangen, der an das blecherne Geräusch eines Nebelhorns erinnerte. Das Alienbaby stieß immer wieder langanhaltende, disharmonische Laute aus, und zwar in solch geringen Abständen, daß ihm dazwischen gerade noch Zeit genug blieb, sich vor dem nächsten Auftreten des Geräusches zu fürchten. Nach eingehender Untersuchung konnte er durch die letzte Nahrungsschicht hindurch freie Hautstellen entdecken, und da sein kleiner Liebling offensichtlich wieder hungrig war, holte er die Spritzpistole.
Als etwa drei Quadratmeter bedeckt waren, gab es eine Unterbrechung — Dr. Pelling war gekommen.
Der Projektarzt nahm nur Helm und Handschuhe ab, spannte die steif gewordenen Finger an und murrte: „Mir wurde gesagt, Sie haben sich am Bein verletzt. Lassen Sie mich mal einen Blick darauf werfen.“
Pelling hätte O’Maras verletztes Bein nicht behutsamer untersuchen können, aber offensichtlich handelte er allein aus Pflichtgefühl und nicht aus Freundschaft. Entsprechend zurückhaltend klang seine Stimme, als er sagte: „Schwere Prellungen und einige Muskelfasern sind gerissen, das ist alles. Sie hatten Glück. Sie müssen das Bein möglichst ruhigstellen. Ich gebe Ihnen etwas zum Einreihen. Ist bei Ihnen neu gestrichen worden?“
„Wie bitte.?“ setzte O’Mara an, dann sah er, wohin der Arzt blickte. „Ach, das ist nur ein Nahrungspräparat. Dieser kleine Bursche hier wollte einfach nicht stillsitzen, während ich ihn besprüht hab. Aber da wir gerade von dem Kleinen sprechen, können Sie mir vielleicht sagen, wie ich.“
„Nein, das kann ich nicht“, unterbrach Pelling ihn. „Mein Kopf ist mit den Leiden meiner eigenen Spezies und den Anwendungen artbezogener Gegenmittel bereits überbelastet, und für FROB-Physiologiekurse ist da kein Platz mehr. Außerdem sind diese Hudlarer ausgesprochen widerstandsfähig — die sind doch fa§t/ gegen alles immun!“ Er schnupperte deutlich vernehmbar und schnitt eine Grimasse. „Warum bringen Sie den Kleinen nicht einfach irgendwo draußen unter?“
„Gewisse Leute haben nun einmal ein zu weiches Herz“, antwortete O’Mara leicht verbittert. „Die empfinden es schon als entsetzliche Grausamkeit, wenn man ein Kätzchen am Genick ergreift.“
„Mhm. wohl wahr, aber das ist Ihr Problem“, sagte der Arzt, wobei er fast mitfühlend wirkte. „In ein paar Wochen sehen wir uns wieder.“
„Warten Sie!“ rief O’Mara eindringlich und humpelte Pelling aufgeregt hinterher, wobei das leere Hosenbein flatterte. „Was ist, wenn etwas passiert? Es muß doch Anleitungen geben, wie man diese Biester pflegt und füttert. Simple Anleitungen. Sie können mich hier doch nicht einfach zurücklassen, ohne. ohne.“
„Ich weiß, was Sie meinen“, entgegnete Pelling. Einen Augenblick lang wirkte er nachdenklich, dann fuhr er fort: „Ich hab bei mir irgendwo ein Buch herumliegen, eine Art Leitfaden für die Anwendung Erster Hilfe bei Hudlarern. Aber es ist in Universal gedruckt und.“
„Ich kann Universal lesen“, unterbrach ihn O’Mara. Pelling sah ihn überrascht an. „Kluges Kerlchen! Also gut, ich werde es Ihnen zukommen lassen.“ Er nickte kurz und verschwand.
O’Mara schloß die Kabinentür des Schlafraums, in der Hoffnung, dadurch den penetranten Geruch verringern zu können. Dann ließ er sich auf der Couch in der Wohnkabine nieder, weil er meinte, eine Ruhepause mehr als verdient zu haben. Er legte das verletzte Bein so, daß der Schmerz fast wohltat, und versuchte sich selbst davon zu überzeugen, seine Lage einfach zu akzeptieren. Aber mehr als eine rein philosophische Gelassenheit kam dabei nicht heraus, denn innerlich kochte er vor Wut.
Andererseits war er derart erschöpft, daß ihm selbst die Anstrengung, sich zu ärgern, zu groß wurde. Seine Augenlider wurden ihm schwer, und ein Gefühl angenehmer Trägheit breitete sich, von Händen und Füßen ausgehend, über seinen ganzen Körper aus. Er seufzte, räkelte sich und machte sich zum Schlafen bereit.
Das Geräusch, das ihn von der Couch hochschnellen ließ, war von der durchdringenden, respekteinflößenden Eindringlichkeit sämtlicher existierender Signalhörner der Galaxis und von einer solchen Lautstärke, daß die Tür zur Schlafkabine aus den Laufschienen zu springen drohte. Instinktiv griff O’Mara nach seinem Raumanzug, ließ ihn aber wieder fluchend fallen, als ihm bewußt wurde, was vorging, dann holte er die Spritzpistole.
Junior hatte wieder mal Hunger.!
Während der folgenden achtzehn Stunden wurde O’Mara immer klarer, was er eigentlich wirklich von hudlarischen Kleinkindern wußte. Zwar hatte er sich mit Hilfe des Translators oft mit den Eltern unterhalten, wobei das Baby häufig das Gesprächsthema gewesen war, aber irgendwie waren die wirklich wichtigen Dinge nie zur Sprache gekommen — Schlaf zum Beispiel.
Nach all seinen aktuellen Beobachtungen und früheren Erfahrungen mit FROBs, schlief deren Nachwuchs anscheinend nie. Während der viel zu kurzen Intervalle zwischen den Fütterungen, tollten die Babies statt dessen in Schlafzimmern herum und zertrümmerten sämtliches Mobiliar, das nicht niet— und nagelfest war — metallene Gegenstände verbogen sie bis zur Unkenntlichkeit und absoluten Unverwendbarkeit — oder sie kauerten sich in eine Ecke und machten Knoten in ihre Tentakel. Wahrscheinlich würde dieser Anblick eines Babys, das praktisch nur mit seinen Fingern spielte, bei einem erwachsenen Hudlarer helles Entzücken hervorrufen, aber O’Mara hatte die Nase ganz einfach gestrichen voll davon.
Und fast auf die Minute genau mußte er die Nervensäge alle zwei Stunden füttern. Wenn er Glück hatte, blieb das Junge ruhig liegen, aber meisten mußte er ihm mit der Spritzpistole hinterherjagen. Normalerweise waren FROBs in diesem Alter noch zu schwach, um herumzutollen — aber das galt nur unter den extremen Schwerkraftbedingungen auf Hudlar. Hier, wo für ihn nicht einmal ein Viertel der gewohnten Schwerkraft herrschte, konnte der kleine Hudlarer nach Lust und Laune herumtollen, was ihm offensichtlich Vergnügen bereitete.
Ganz im Gegensatz zu O’Mara: 1 hatte das Gefühl, sein Körper wäre ein dicker, feuchter Schwamm, der vor Erschöpfung triefte. Nach jeder Fütterung ließ er sich auf die Couch fallen und versank jedesmal fast in Ohnmacht. Er war derart ausgelaugt, daß er fest davon überzeugt war, das nächste Hungertröten der Nervensäge garantiert zu überhören, weil er zu tief schlafen würde. Aber kaum war er eingenickt, riß ihn dieses disharmonisch blökende Nebelhorn aus dem Schlaf und ließ ihn wie eine angetrunkene Marionettenpuppe mechanisch jenen Bewegungsablauf nachvollziehen, der dem irrsinnigen Getöse schließlich ein Ende bereitete.
Nach fast dreißig Stunden wußte O’Mara, daß er es nicht mehr lange ertragen könnte. Ob man ihm den Sprößling nun in zwei Tagen oder zwei Monaten abnahm, es käme, was ihn betraf, aufs gleiche hinaus: er würde bis dahin ein Fall für die geschlossene Anstalt sein — falls er nicht zuvor in einem schwachen Moment auf die Idee käme, einen ausgiebigen Spaziergang durchs All zu unternehmen, allerdings ohne Raumanzug.