„Das kann ich Ihnen nicht sagen“, antwortete Arretapec nach ein paar Sekunden Bedenkzeit. „Mein Ziel ist. ist relativ weitgesteckt. Es ist für die Zukunft. Sie würden das sowieso nicht verstehen.“
„Und woher wissen Sie das? Wenn Sie mir sagen würden, was Sie vorhaben, könnte ich Ihnen vielleicht dabei behilflich sein.“
„Sie können mir nicht helfen.“
„Hören Sie, bislang haben Sie noch nicht einmal sämtliche Möglichkeiten, die das Hospital bietet, genutzt“, hakte Conway ungeduldig nach. „Egal, was Sie mit Ihrem Patienten vorhaben, aber der erste Schritt hätte eine ernsthafte Untersuchung sein müssen — Ruhigstellung und anschließende Röntgen— und Gewebeuntersuchungen und all das. So hätten Sie wichtige physiologische Daten erhalten, auf deren Grundlage die weitere Arbeit viel.“
„Um die Sache einfach auszudrücken“, unterbrach ihn Arretapec, „Sie behaupten also, daß man einen komplizierten Organismus oder Mechanismus erst in seine Bestandteile zerlegen muß, damit man ihn als untrennbares Ganzes verstehen kann. Meine Spezies ist nicht der Ansicht, daß ein Objekt erst zerlegt werden muß, bevor man es verstehen kann. Ihre primitiven Untersuchungsmethoden sind für mich deshalb wertlos. Ich schlage vor, daß Sie jetzt gehen.“
Schäumend vor Wut machte sich Conway davon.
Sein erster Gedanke war, in O’Maras Büro zu stürmen und dem Chefpsychologen zu sagen, er solle sich für den VUXG gefälligst einen anderen Laufburschen suchen. Aber hatte O’Mara ihn nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es sich um eine wichtige Aufgabe handelte? Und sollte der Chefpsychologe zu der Annahme kommen, daß Conway gekränkt aufgab, nur weil seine Neugierde nicht befriedigt oder sein Stolz verletzt worden war, würde er ihm bestimmt einige bitterböse Vorhaltungen machen. Es gab eine Menge Ärzte — insbesondere die Assistenten der Diagnostiker —, die die Patienten ihrer Vorgesetzten nicht anrühren durften. Lag es also vielleicht daran, daß er sich innerlich nur weigerte, ein so merkwürdiges Wesen wie Arretapec als Vorgesetzten zu akzeptieren.?
Wenn Conway in seinem derzeitigen Gemütszustand O’Mara aufsuchen würde, bestand die reelle Gefahr, daß der Psychologe zu dem Schluß kam, er sei aufgrund seiner Veranlagung für diese Position einfach nicht geeignet. Ganz unabhängig von dem Prestige, das mit einem Posten im Orbit Hospital verbunden war, war die Arbeit in dieser Einrichtung sowohl interessant als auch lohnenswert. Falls O’Mara ihn für untauglich hielt, hier zu verbleiben, und ihn in irgendein planetarisches Hospital versetzen würde, wäre das die größte vorstellbare Tragödie in seinem Leben.
Aber wenn er sich nicht an O’Mara wenden konnte, an wen dann? Von seiner Arbeit vorübergehend freigestellt und ohne neue Aufgabe wußte er nicht recht, was er mit sich anfangen sollte. Ein paar Minuten verharrte er grübelnd an einem Kreuzungspunkt zweier Korridore, während Wesen, die einen Querschnitt sämtlicher intelligenten Spezies der Galaxis repräsentierten, aufrecht, kriechend oder schlängelnd an ihm vorbeizogen. Plötzlich hatte er eine Idee: Er konnte durchaus etwas tun, etwas, das er ohnehin getan hätte, wenn bislang nicht alles so überstürzt abgelaufen wäre.
In der Bibliothek des Hospitals gab es etliche Werke über die prähistorische Epoche der Erde, und zwar sowohl in aufgezeichneter als auch in altmodischer und etwas unhandlicher Buchform. Conway stapelte die Bände auf einem Lesetisch übereinander und ließ es auf einen Versuch ankommen, seine berufliche Neugierde in bezug auf den Patienten auf diese etwas umständliche Art zu befriedigen.
Die Zeit verging wie im Fluge.
Conway stellte sofort fest, daß „Dinosaurier“ lediglich ein allgemeiner Ausdruck für riesige Reptilien war. Mit Ausnahme der größeren Gestalt und der knochigen Verdickung am Schwanzende sah der Patient rein äußerlich einem Brontosaurier zum Verwechseln ähnlich, der in den Sümpfen des Juras gelebt hatte — ein Pflanzenfresser, der im Gegensatz zu ihrem Patienten keine natürlichen Waffen besessen hatte, mit denen er sich gegen die fleischfressenden Reptilien seiner Zeit hätte verteidigen können. Zudem waren überraschend viele physiologische Daten aufgeführt, die Conway begierig in sich aufnahm.
Die Wirbelsäule bestand aus riesigen Rückenwirbeln, die mit Ausnahme der Schwanzwirbel alle hohl waren — durch diesen leichten Knochenbau besaß das Tier im Verhältnis zu seiner immensen Größe ein relativ geringes Gewicht. Es legte Eier. Der Kopf war klein, mit einem der kleinsten Gehirne, das man je bei Wirbeltieren entdeckt hat. Aber in der Gegend der Kreuzbeinwirbel besaß es ein gut entwickeltes Nervenzentrum, das die mehrfache Größe des eigentlichen Gehirns hatte. Man nahm an, daß die Brontosaurier langsam wuchsen, und ihre enorme Größe führte man auf die Tatsache zurück, daß sie zweihundert Jahre und älter werden konnten.
Ihre einzige Verteidigungsmöglichkeit gegen rivalisierende Zeitgenossen war, sich ins Wasser zu begeben und dort zu verharren — sie konnten auch Wasserpflanzen abweiden und brauchten zum Atmen den Kopf anscheinend nur kurz über Wasser zu halten. Sie starben aus, als der ihnen angestammte Lebensraum, die Sumpfgebiete, durch geologische Veränderungen auszutrocknen begann und sie auf Gedeih und Verderb ihren natürlichen Feinden ausgesetzt waren.
Ein Experte behauptete, daß diese Saurier einer der größten Fehler der Natur gewesen seien. Und dennoch hatten sie, wie ein anderer dem entgegenstellte, drei geologische Epochen durchlebt — vom Jura über die Kreide bis ins Tertiär hinein — insgesamt einhundertvierzig Millionen Jahre; für einen „Fehler“ der Natur eine enorme Zeitspanne, wenn man bedenkt, daß der Mensch ungefähr seit einer halben Million Jahren existiert.!
Conway verließ die Bibliothek mit der festen Überzeugung, etwas Wichtiges entdeckt zu haben — worum es sich dabei genau handelte, konnte er allerdings nicht sagen; es war ein furchtbar frustrierendes Gefühl. Während einer hastig eingenommenen Mahlzeit kam er zu dem Schluß, daß er dringend mehr Informationen benötigte, und es gab nur einen, der ihm diese eventuell liefern konnte: Er mußte sich wieder einmal an O’Mara wenden.
„Und wo ist unser kleiner Freund?“ fragte der Psychologe besorgt, als Conway ein paar Minuten darauf O’Maras Büro betrat. „Haben Sie sich etwa gestritten?“
Conway schluckte, und als er antwortete, versuchte er, sich seine Verunsicherung nicht anmerken zu lassen. „Doktor Arretapec wollte sich eine Weile mit dem Patienten allein beschäftigen, und ich hab mich in der Bibliothek über Dinosaurier etwas klüger gemacht. Dabei kam mir der Gedanke, ob Sie mir noch ein paar zusätzliche Informationen geben könnten.“
„Viel ist das allerdings nicht“, sagte O’Mara. Zu Conways Unbehagen sah O’Mara ihn eine ganze Weile durchdringend an, bevor er mürrisch fortfuhr: „Also gut. nachdem die Besatzung eines Forschungsschiffs des Monitorkorps Arretapecs Heimatplaneten entdeckt und das hohe Zivilisationsstadium seiner Bewohner erkannt hatte, vertraute man ihnen den Hyperantrieb an. Einer der ersten Planeten, den die VUXG damals aufgesucht haben, ist eine rauhe, junge Welt ohne intelligentes Leben gewesen, aber eine der Lebensformen interessierte sie — nämlich die gigantischen Saurier. Der galaktischen Föderation sagten sie, daß sie mit ihrer Unterstützung etwas erreichen könnten, das der gesamten Zivilisation zugute kommen würde. Nun, da eine telepathische Spezies nicht lügen kann, ja nicht einmal weiß, was eine Lüge ist, bewilligte man ihnen die geforderte Unterstützung. Deshalb sind Arretapec und sein Patient letztendlich jetzt hier im Orbit Hospital.“
O’Mara hielt kurz inne, dann schloß er mit den Sätzen: „Einen kleinen Punkt gibt es allerdings zusätzlich zu beachten: Anscheinend gehört zu den Psikünsten der VUXGs auch eine Art hellseherischer Fähigkeit. Da diese sich aber nicht auf die perspektivische Entwicklung eines Individuums, sondern nur auf die ferne Zukunft ganzer Populationen bezieht, und das ausgesprochen oberflächlich, ist sie ziemlich nutzlos.“