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»Auf Wiedersehen, Stubbs!« hatten Babs und Tony gerufen, und Christine hatte über den alten kindischen Spitznamen gelächelt. Und alle hatten versprochen, ihr zu schreiben, obwohl sie zwei Wochen später, nach Semesterschluß, in Paris wieder mit ihnen zusammentreffen sollte. Ganz zum Schluß hatte ihre Mutter sie fest an sich gedrückt und gesagt, sie solle gut auf sich achtgeben. Dann war die große Düsenmaschine zur Startbahn gerollt und hatte sich mit Dröhnen majestätisch vom Boden abgehoben. Aber sie hatte noch nicht richtig an Höhe gewonnen, da sackte sie mit einem herabhängenden Flügel ab, wurde zu einem wirbelnden purzelnden Katharinenrad, dann einen Moment lang zu einer Staubwolke, flammte auf wie eine brennende Fackel und war endlich nur noch ein Haufen weitverstreuter Trümmer - von Metallteilen und menschlichen Überresten

Das war vor fünf Jahren. Einige Wochen nach dem Unglück hatte sie Wisconsin verlassen und war nie mehr dorthin zurückgekehrt.

Christine und der Boy gingen den Korridor entlang, und der dicke Läufer dämpfte das Geräusch ihrer Schritte. Jimmy Duckworth dachte laut nach. »Nummer 1439... das ist doch der alte Herr... Mr. Wells. Vor ein paar Tagen haben wir ihn aus einem Eckzimmer dahin umquartiert.«

Einige Meter weiter unten öffnete sich eine Tür, und ein gutgekleideter Mann, Mitte der Vierzig, trat auf den Korridor. Er machte die Tür hinter sich zu und war im Begriff, den Schlüssel einzustecken, zögerte aber, als er Christine erblickte und musterte sie mit unverhohlenem Interesse. Als er zum Sprechen ansetzte, schüttelte der Boy fast unmerklich den Kopf. Christine, der das stumme Gebärdenspiel nicht entgangen war, dachte, daß sie sich eigentlich geschmeichelt fühlen müßte, für ein Callgirl gehalten zu werden. Sie wußte vom Hörensagen, daß sich unter Herbie Chandlers Damenflor einige außerordentlich schöne Mädchen befanden.

Im Weitergehen fragte sie: »Warum hat man Mr. Wells umquartiert?«

»Wie ich gehört hab', Miss, hat der Gast, der die Nummer 1439 vorher hatte, Krach geschlagen, und da haben sie die Zimmer einfach ausgetauscht.«

Christine erinnerte sich nun wieder an die Nummer 1439; es hatte schon öfter Beschwerden über dieses Zimmer gegeben. Es lag unmittelbar neben dem Personalaufzug und war anscheinend Treffpunkt sämtlicher Rohrleitungen. Infolgedessen war es sehr laut und unerträglich heiß. Fast in jedem Hotel gab es mindestens einen solchen Raum - bei manchen hieß er die Folterkammer -, und im allgemeinen wurde er nur dann vermietet, wenn das Hotel bis zum letzten Platz belegt war.

»Wenn Mr. Wells ein besseres Zimmer hatte, warum hat man ihn dann gebeten, umzuziehen?«

Der Boy zuckte mit den Schultern. »Danach sollten Sie lieber die Burschen am Empfang fragen.«

Sie gab nicht nach. »Aber Sie haben sich doch sicher Ihre Gedanken gemacht.«

»Tjah, also ich glaube, es liegt daran, weil er sich nie beschwert. Der alte Herr kommt seit Jahren her und hat noch nie auch nur einen Mucks gesagt. Und es gibt welche, die scheinen sich 'nen Spaß daraus zu machen.« Christine preßte ärgerlich die Lippen zusammen, als Jimmy hinzufügte: »In der Küche hab' ich gehört, daß sie ihm unten im Speiserestaurant den Tisch direkt neben der Küchentür angewiesen haben, den sonst niemand haben will. Dem macht's ja nichts aus, sagen sie.«

Morgen früh würde es einigen Leuten sehr viel ausmachen; dafür würde sie sorgen, dachte Christine grimmig. Als sie sich vorstellte, wie schäbig ein Stammgast, nur weil er ein ruhiger friedlicher Mensch war, behandelt worden war, spürte sie, wie es in ihr kochte. Und wenn schon! Ihre Temperamentsausbrüche waren im Hotel nicht unbekannt; einige schrieben sie, wie sie gut wußte, ihrem roten Haar zu. Im allgemeinen nahm sie sich sehr zusammen. Aber gelegentlich hatte ein solches Donnerwetter auch seinen Wert, weil es die Säumigen zum Handeln zwang.

Sie bogen um eine Ecke und machten vor der Nummer 1439 halt. Der Boy klopfte an die Tür. Sie warteten und lauschten. Niemand antwortete, und Jimmy Duckworth klopfte noch einmal und kräftiger als vorher. Diesmal meldete sich der Bewohner sofort - mit einem unheimlichen Stöhnen, das leise begann, anschwoll und unvermittelt abbrach.

»Den Hauptschlüssel, schnell!« drängte Christine. »Machen Sie die Tür auf.«

Sie blieb zurück, während der Boy hineinging; selbst in einer so offenkundigen Notlage mußte das vom Hotel vorgeschriebene Dekorum gewahrt werden. Im Zimmer war es dunkel; Duckworth knipste das Licht an und verschwand aus Christines Blickfeld. Gleich darauf rief er beschwörend: »Kommen Sie schnell, Miss Francis!«

Als sie den Raum betrat, empfing sie eine erstickende Hitze, obwohl der Schalter der Klimaanlage, wie sie mit einem Blick feststellte, auf »Kalt« zeigte. Zu weiteren Beobachtungen fehlte ihr die Zeit, denn ihre Aufmerksamkeit wurde völlig in Anspruch genommen von der röchelnden Gestalt, die halb aufgerichtet in den Kissen lehnte; das Gesicht aschgrau, rang sie mit hervorquellenden Augen und zitternden Lippen verzweifelt um Atem.

Christine trat rasch ans Bett. Vor Jahren hatte sie im Sprechzimmer ihres Vaters einen Patienten bei einem Erstickungsanfall erlebt. Sie konnte zwar nicht alles tun, was ihr Vater damals getan hatte, aber an eine Maßnahme erinnerte sie sich noch genau. »Öffnen Sie das Fenster«, befahl sie Duckworth. »Wir brauchen hier drinnen unbedingt Luft.«

Die Augen des Boys klebten am Gesicht des keuchenden alten Mannes. Er erwiderte nervös: »Das Fenster ist versiegelt. Wegen der Klimaanlage.«

»Dann brechen Sie's auf. Schlagen Sie meinetwegen die Scheibe ein, wenn's nicht anders geht.«

Auf dem Nachttisch stand ein Telefon. Sie griff nach dem Hörer, und als sich die Zentrale meldete, sagte sie: »Hier ist Miss Francis. Ist Dr. Aarons im Hotel?«

»Nein, Miss Francis, aber er hat eine Telefonnummer hinterlassen, unter der ich ihn erreichen kann, wenn es sich um einen dringenden Fall handelt.«

»Der Fall ist sehr dringend. Sagen Sie Dr. Aarons, Zimmer 1439, und er möchte sich bitte beeilen. Fragen Sie ihn, wann er frühestens im Hotel sein kann, und rufen Sie mich hier an.«

Sie legte auf und wandte sich wieder dem Bett zu. Der schmächtige gelbliche Mann rang noch immer krampfhaft um Luft, und sie bemerkte, wie sein fahles Gesicht allmählich blau wurde. Das Stöhnen begann von neuem; es wurde von den Atembeschwerden verursacht, aber Christine erkannte, daß sich die schwache Widerstandskraft des Kranken vor allem durch seine verzweifelten körperlichen Anstrengungen erschöpfte.

»Mr. Wells«, sagte sie und versuchte ein Gefühl der Zuversicht zu übermitteln, das sie keineswegs empfand, »ich glaube, Sie können leichter atmen, wenn Sie ganz still liegen.« Erleichtert stellte sie fest, daß der Boy am Fenster Fortschritte machte. Er hatte mit einem Kleiderbügel das Siegel an der Verriegelung gesprengt und stemmte nun den unteren Teil des Fensters Zentimeter für Zentimeter hoch.

Wie als Antwort auf Christines beruhigende Worte ließ das Keuchen des kleinen Mannes nach. Er hatte ein altmodisches Flanellnachthemd an, und als Christine einen Arm um ihn legte, spürte sie unter dem groben Stoff seine knochigen Schultern. Sie stopfte ihm die Kissen so in den Rücken, daß er, von ihnen gestützt, fast aufrecht sitzen konnte. Seine sanften Rehaugen sahen sie an und versuchten ihr seine Dankbarkeit auszudrücken. »Ich habe einen Arzt benachrichtigt«, sagte sie tröstend. »Er muß jeden Moment kommen.« Indessen machte der Boy, vor Anstrengung keuchend, eine letzte Kraftanstrengung, der Verschluß gab plötzlich nach, und das Fenster glitt weit auf. Ein Schwall kühler Luft drang ins Zimmer. Das Unwetter war also doch auf dem Weg nach dem Süden, dachte Christine dankbar; es trieb eine frische Brise vor sich her, und die Außentemperatur mußte niedriger sein als seit Tagen. Das Telefon läutete. Sie bedeutete dem Boy durch ein Zeichen, ihren Platz am Bett des Kranken einzunehmen, und hob den Hörer ab.