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»Dr. Aarons ist auf dem Weg ins Hotel, Miss Francis«, sagte das Mädchen aus der Zentrale. »Er war in Paradis, und ich soll Ihnen ausrichten, daß er in zwanzig Minuten eintreffen wird.«

Christine überlegte. Paradis lag jenseits des Mississippi, noch hinter Algiers. Selbst ein schneller und geschickter Fahrer würde die Strecke kaum in zwanzig Minuten schaffen. Außerdem zweifelte sie manchmal an der Kompetenz des behäbigen, trinkfesten Dr. Aarons, der als Hausarzt umsonst im Hotel wohnte und dafür stets verfügbar sein mußte. »Ich glaube nicht, daß wir so lange warten können«, sagte sie zu dem Mädchen. »Schauen Sie doch mal nach, ob wir unter den Gästen einen Arzt haben.«

»Das hab' ich schon getan.« Die Antwort klang eine Spur zu selbstgefällig, so als habe das Mädchen zu viele Geschichten über heldenhafte Telefonfräulein gelesen und sich vorgenommen, den leuchtenden Vorbildern nachzueifern. »In der Nummer 221 wohnt ein Dr. Koenig und in der 1203 ein Dr. Uxbridge.«

Christine notierte sich die Nummern auf einem Block, der neben dem Apparat lag. »Schön, dann verbinden Sie mich bitte mit der 221.« Ärzte, die in Hotels absteigen, erwarten zu Recht, daß man ihr Privatleben respektiert. Aber im Notfall durfte man sich schon mal über das Protokoll hinwegsetzen.

Es klickte ein paarmal in der Leitung, während der Apparat am anderen Ende läutete. Dann meldete sich eine verschlafene Stimme mit deutschem Akzent: »Ja, wer ist dort?«

Christine stellte sich vor. »Verzeihen Sie die Störung, Dr. Koenig, aber einer unserer Gäste ist schwer erkrankt.« Ihr Blick schweifte zum Bett hinüber. Die beängstigende Blaufärbung des Gesichtes war verschwunden. Aber der kleine Mann war noch immer leichenblaß und atmete mühsam wie zuvor. Sie fügte hinzu: »Es wäre sehr freundlich, wenn Sie herüberkommen könnten.«

Eine kurze Pause trat ein. Dann erwiderte dieselbe Stimme liebenswürdig: »Meine liebe junge Dame, ich wäre nur zu glücklich, Ihnen einen, wenn auch noch so bescheidenen Dienst erweisen zu können. Aber ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen.« Er schmunzelte hörbar. »Sehen Sie, ich bin Doktor der Musik und in Ihre wunderschöne Stadt gekommen, um als Gastdirigent - das ist, glaube ich, das richtige Wort - Ihr ausgezeichnetes Symphonieorchester zu leiten.«

Trotz Ihrer Besorgnis hätte Christine fast gelacht. Sie entschuldigte sich. »Es tut mir sehr leid, daß ich Sie im Schlaf gestört habe.«

»Bitte, nehmen Sie sich das nicht zu Herzen. Sollte auch die andere Sorte Doktoren meinem unglücklichen Mitgast nicht mehr helfen können, dann könnte ich natürlich mit meiner Geige hinüberkommen und für ihn spielen.« Ein tiefer Seufzer kam durch die Leitung. »Gibt es einen schöneren Tod als bei einem Adagio von Vivaldi oder Tartini sanft zu entschlafen?«

»Vielen Dank. Ich hoffe, das wird nicht nötig sein.« Sie legte auf und verlangte ungeduldig die nächste Verbindung.

Dr. Uxbridge in der Nummer 1203 meldete sich sofort mit einer Stimme, der jede Frivolität fernlag. Christines erste Frage beantwortete er kurz und sachlich: »Ja, ich bin Arzt - Internist.« Er hörte sich Christines Erklärungen kommentarlos an und sagte dann knapp: »Gut, in ein paar Minuten bin ich bei Ihnen.«

Der Boy stand noch neben dem Bett. Christine befahl ihm: »Mr. McDermott ist in der Präsidentensuite. Warten Sie auf ihn und bitten Sie ihn, so schnell wie möglich herzukommen.« Sie griff wieder nach dem Telefonhörer. »Den Chefingenieur bitte.«

Zum Glück war der Chefingenieur fast immer zu erreichen. Doc Vickery war Junggeselle, wohnte im Hotel und hatte nur eine einzige Leidenschaft: die technischen Eingeweide des St. Gregory in ihrer gesamten Ausdehnung vom Keller bis unters Dach. Seit einem Vierteljahrhundert, seit er der See und seinem heimatlichen Clydeside ade gesagt hatte, beaufsichtigte er die Installationsanlagen des Hotels, und in mageren Zeiten, wenn das Geld für Ersatzteile knapp war, verstand er es, den abgenutzten Maschinen Sonderleistungen abzuschmeicheln. Der Chefingenieur war ein Freund Christines, und sie wußte, daß sie zu seinen Lieblingen zählte.

Nach wenigen Sekunden hörte sie seine Stimme mit ihrem rauhen schottischen Akzent. »Aye?«

In wenigen Worten berichtete sie ihm über die Erkrankung von Albert Wells. »Der Doktor ist noch nicht da. Aber er wird wahrscheinlich Sauerstoff brauchen. Wir haben doch ein tragbares Gerät im Hotel, nicht wahr?«

»Aye, wir haben Sauerstoffzylinder, Chris, aber wir verwenden sie bloß beim Schweißen.«

»Sauerstoff ist Sauerstoff«, antwortete sie. Einiges von dem, was sie bei ihrem Vater aufgeschnappt hatte, fiel ihr allmählich wieder ein. »Die Verpackung spielt keine Rolle. Könnten Sie einen Mann von Ihrer Nachtschicht mit allem Notwendigen heraufschicken?«

Der Chefingenieur brummte zustimmend. »Freilich, und ich komm' auch, mein Mädel, sobald ich in die Hosen gefahren bin. Sonst kommt irgend so ein Witzbold auf die Idee, dem alten Mann einen Pott mit Azetylen unter die Nase zu halten, und das würde ihm bestimmt den Rest geben.«

»Ach bitte, beeilen Sie sich.« Sie legte auf und beugte sich übers Bett.

Die Augen des kleinen Mannes waren geschlossen. Nun, wo er nicht mehr nach Luft rang, schien er überhaupt nicht mehr zu atmen.

Es klopfte leicht an die halb geöffnete Tür, und ein hochgewachsener, hagerer Mann kam herein. Er hatte ein eckiges Gesicht, und sein Haar war an den Schläfen ergraut.

Unter dem konservativen dunkelblauen Anzug kam ein beiger Pyjama zum Vorschein. »Ich bin Dr. Uxbridge.« Die Stimme des Arztes strahlte Ruhe und Sicherheit aus.

»Herr Doktor, er hat eben erst... «

Dr. Uxbridge nickte und entnahm seiner Ledertasche, die er aufs Bett stellte, ein Stethoskop. Ohne Zeit zu verlieren, schob er es unter das Flanellnachthemd des Patienten und horchte rasch Brust und Rücken ab. Dann nahm er mit schnellen, sicheren Bewegungen eine Spritze aus der Tasche, setzte sie zusammen und brach den Hals einer kleinen Ampulle ab. Nachdem er die Spritze gefüllt hatte, beugte er sich über den Kranken, schob einen Ärmel des Nachthemdes hoch und drehte ihn zu einer provisorischen Aderpresse zusammen. »Halten Sie das fest und ziehen Sie's eng zusammen«, sagte er zu Christine.

Mit alkoholgetränkter Watte tupfte er die Haut über der Vene ab und stach die Nadel in den Unterarm. Er wies mit dem Kopf auf die Aderpresse. »Sie können jetzt loslassen.« Dann, nach einem Blick auf seine Uhr, begann er die Flüssigkeit langsam zu injizieren.

Christines Blick heftete sich fragend auf das Gesicht des Arztes. Ohne aufzusehen, erklärte er: »Aminophyllin; es soll das Herz anregen.« Er blickte wieder auf die Uhr und erhöhte die Dosierung nach und nach. Eine Minute verstrich. Zwei Minuten. Die Spritze war zur Hälfte geleert. Bisher zeigte sich keine Wirkung.

»Was fehlt ihm eigentlich?« flüsterte Christine.

»Schwere Bronchitis in Verbindung mit Asthma. Ich vermute, er hat diese Anfälle schon früher gehabt.«

Plötzlich dehnte sich die Brust des kleinen Mannes. Sie hob und senkte sich, langsamer als vorher, aber in vollen tiefen Atemzügen. Er schlug die Augen auf.

Die Anspannung im Raum ließ nach. Der Arzt zog die Spritze heraus und nahm sie auseinander.

»Mr. Wells«, sagte Christine. »Mr. Wells, können Sie mich hören?«

Er nickte mehrmals hintereinander und sah sie aufmerksam an.

»Wir fanden Sie sehr krank vor, Mr. Wells. Das ist Dr. Uxbridge, ein Hotelgast, den wir um Hilfe baten.«

Der Blick des Kranken wanderte zum Arzt hinüber. »Danke«, flüsterte er mühsam. Es war fast ein Keuchen und das erste Wort, das der Kranke hervorbrachte. Sein Gesicht bekam allmählich wieder ein wenig Farbe.

»Wenn jemand Dank verdient, dann diese junge Dame.« Der Arzt verzog sein Gesicht zu einem knappen Lächeln und sagte dann zu Christine: »Der Herr ist noch immer sehr leidend und benötigt auch weiterhin ärztliche Betreuung. Mein Rat wäre, ihn sofort in ein Krankenhaus zu überführen.«