»Nein, nein! Das möchte ich nicht!« kam es hastig und eindringlich vom Bett her. Der kleine Mann beugte sich in den Kissen vor, mit unruhigem Blick, und seine Arme, die Christine vorhin zugedeckt hatte, lagen nun auf der Decke. Er atmete noch immer keuchend und mit Anstrengung, aber die akute Gefahr war vorüber.
Christine hatte zum erstenmal Zeit, sein Äußeres genau zu betrachten. Ursprünglich hatte sie ihn auf Anfang Sechzig geschätzt; aber nun revidierte sie ihre Annahme und fügte ein halbes Dutzend Jahre hinzu. Er war von Gestalt schmächtig, und seine geringe Größe sowie seine abgemagerten, spitzen Gesichtszüge und die ein wenig eingefallenen Schultern gaben ihm das sperlinghafte Aussehen, dessen sie sich von früheren Begegnungen her erinnerte. Die spärlichen grauen Haarsträhnen, sonst ordentlich zurückgekämmt, waren jetzt zerzaust und feucht von Schweiß. Auf seinem Gesicht lag meistens ein milder, harmloser, fast abbittender Ausdruck, und dennoch spürte Christine darunter verborgene stille Beharrlichkeit.
Ihre erste Begegnung mit Albert Wells hatte vor zwei Jahren stattgefunden. Er war schüchtern ins Verwaltungsbüro gekommen, tief beunruhigt über eine Unstimmigkeit in seiner Rechnung, über die er sich mit der Kasse nicht hatte einigen können. Es handelte sich um einen Betrag von 75 Cents, und während sich der Hauptkassierer bereit erklärt hatte, den Posten ganz zu streichen - wie es gewöhnlich geschah, wenn Gäste geringfügige Beträge anzweifelten -, ging es Albert Wells darum, zu beweisen, daß der Posten auf seiner Rechnung überhaupt nichts zu suchen hatte. Nach einigen geduldigen Umfragen stellte Christine fest, daß der alte Mann recht hatte, und da sie selbst gelegentlich Anwandlungen von Sparsamkeit unterworfen war, die allerdings jedesmal von Ausbrüchen wilder weiblicher Extravaganz abgelöst wurden, sympathisierte sie mit dem kleinen Mann und achtete ihn seiner Charakterstärke wegen. Außerdem schloß sie aus seiner Hotelrechnung, die sich in bescheidenen Grenzen hielt, und aus seiner Kleidung, die offensichtlich von der Stange kam, daß er nur über geringe Mittel verfügte, vielleicht als Rentner lebte, und daß die jährlichen Besuche in New Orleans Höhepunkte in seinem Dasein waren.
»Ich mag Krankenhäuser nicht«, erklärte Albert Wells. »Hab' sie nie gemocht.«
»Falls Sie hier bleiben«, wandte der Arzt ein, »brauchen Sie regelmäßig ärztliche Betreuung und wenigstens für die nächsten vierundzwanzig Stunden eine Pflegerin. Und eigentlich müßten Sie auch ab und zu Sauerstoff bekommen.«
Der kleine Mann ließ nicht locker. »Für die Pflegerin kann doch das Hotel sorgen. Sie können das, Miss, nicht wahr?«
»Ich denke schon.« Albert Wells' Abneigung gegen Krankenhäuser war anscheinend im Augenblick sogar stärker als seine natürliche Zurückhaltung und der Wunsch, niemandem zur Last zu fallen. Christine fragte sich allerdings, ob er ahnte, wie kostspielig Privatpflege war.
Sie wurden unterbrochen. In der Tür tauchte ein Mechaniker im Overall auf und schob einen Sauerstoffzylinder auf einem Wägelchen vor sich her. Ihm folgte der stämmige Chefingenieur, der einen kurzen Gummischlauch, Draht und einen Plastikbeutel trug.
»Krankenhausmäßig ist es zwar nicht, Chris«, sagte er, »aber ich schätze, es funktioniert«. Er war hastig in die Kleider gefahren und hatte ein altes Tweedjackett und Slacks an; das Hemd war offen und enthüllte ein Stück seiner behaarten Brust. Seine Füße steckten in offenen Sandalen, und unter dem kahlen gewölbten Schädel saß ihm die breitrandige Brille wie gewöhnlich fast auf der Nasenspitze.
Dr. Uxbridge machte ein erstauntes Gesicht. Christine erklärte ihm, sie habe damit gerechnet, daß Sauerstoff benötigt würde, und stellte den Chefingenieur vor. Dieser nickte, ohne sich bei der Arbeit stören zu lassen, und spähte nur kurz über den Rand seiner Brille. Gleich darauf, nachdem er den Schlauch angeschlossen hatte, verkündete er: »An diesen Plastikbeuteln sind schon ein Haufen Leute erstickt, aber das ist noch kein Grund, warum einer nicht auch mal das Gegenteil bewirken sollte. Was meinen Sie, Doktor, geht es so?«
»Davon bin ich überzeugt.« Dr. Uxbridge war nicht mehr ganz so zugeknöpft wie bisher. Er sah Christine an. »Dieses Hotel scheint einige äußerst tüchtige Mitarbeiter zu haben.«
Sie lachte. »Warten wir's ab. Wenn wir erst mal Ihre Zimmerreservierungen durcheinandergebracht haben, werden Sie Ihre Meinung bestimmt ändern.«
Der Arzt ging wieder zum Bett zurück. »Der Sauerstoff wird Ihnen Erleichterung verschaffen, Mr. Wells. Diese Bronchialbeschwerden haben Sie vermutlich schon länger.«
Albert Wells nickte. »Die Bronchitis habe ich mir als Grubenarbeiter geholt«, sagte er heiser. »Und später kam dann noch das Asthma dazu.« Seine Augen schweiften zu Christine hinüber. »Mir tut das alles sehr leid, Miss.«
»Ich bin auch traurig, vor allem, weil Sie Ihr Zimmer wechseln mußten.«
Der Chefingenieur hatte indessen das andere Ende des Schlauchs an den grüngestrichenen Zylinder angeschlossen. Dr. Uxbridge sagte ihm: »Wir wollen mit fünf Minuten Sauerstoff beginnen und danach fünf Minuten pausieren.« Gemeinsam befestigten sie die improvisierte Maske über dem Gesicht des Kranken. Ein stetiges Zischen zeigte an, daß der Sauerstoff einströmte.
Der Arzt warf einen Blick auf seine Uhr und fragte dann: »Haben Sie einen hiesigen Arzt benachrichtigt?«
Christine bejahte und erklärte, warum Dr. Aarons noch nicht da war.
Dr. Uxbridge nickte befriedigt. »Dann kann er alles Weitere veranlassen. Ich komme aus Illinois und bin nicht befugt, in Louisiana zu praktizieren.« Er beugte sich über Albert Wells. »Wie fühlen Sie sich? Besser?« Unter der Plastikmaske versuchte der kleine Mann zu nicken.
Auf dem Korridor hörte man feste Schritte, und gleich darauf erschien Peter McDermotts athletische Gestalt in der Türöffnung. »Ich habe Ihre Nachricht bekommen«, sagte er zu Christine und sah zum Bett hinüber. »Geht es ihm besser?«
»Ja. Aber ich glaube, wir sind Mr. Wells einiges schuldig.« Sie winkte Peter auf den Korridor hinaus und schilderte ihm die Umquartierung des kleinen Mannes, von der ihr der Boy erzählt hatte. Als sie sah, wie Peter die Stirn runzelte, fügte sie hinzu: »Falls er hier bleibt, müßten wir ihm schnell ein anderes Zimmer geben, und ich könnte mir vorstellen, daß sich auch eine Pflegerin ohne allzuviel Mühe beschaffen ließe.«
Peter nickte. In einem Mädchenzimmer auf der anderen Seite des Korridors befand sich ein Haustelefon. Er ging hinüber und verlangte den Empfang.
»Ich bin im vierzehnten«, sagte er, als sich der Empfang meldete. »Ist in der Etage noch ein Zimmer frei?«
Eine spürbare Pause folgte. Der Empfangschef war einer von den alten Mitarbeitern, die Warren Trent vor vielen Jahren eingestellt hatte. Kaum jemals wurde seine fast automatische und wenig einfallsreiche Arbeitsweise bemängelt. Er hatte Peter McDermott bei mehreren Gelegenheiten zu verstehen gegeben, er könne Neulinge nicht leiden, und schon gar nicht, wenn sie jünger als er und ihm übergeordnet waren und aus dem Norden stammten.
»Also«, sagte Peter, »ist nun ein Zimmer frei oder nicht?«
»Ich habe noch die Nummer 1410«, erwiderte der Angestellte in bestem südlichem Pflanzerakzent, »aber ich bin gerade im Begriff, sie einem Herrn zu geben, der soeben eingetroffen ist.« Er fügte hinzu: »Falls Sie es noch nicht wissen sollten, wir sind nahezu voll besetzt.«
Die Nummer 1410 war ein Zimmer, an das Peter sich erinnerte. Es war groß und luftig und ging auf die St. Charles Avenue hinaus. »Wenn ich die 1410 nehme, können Sie Ihren Mann dann woanders unterbringen?«
»Nein, Mr. McDermott. Ich habe nur noch eine kleine Suite in der fünften Etage, und der Herr möchte keinen höheren Preis zahlen.«
»Schön«, sagte Peter entschieden, »dann geben Sie dem Mann für heute nacht die Suite zum normalen Zimmerpreis. Morgen können wir ihn dann umquartieren. Ich brauche die 1410 für den Gast von 1439. Schicken Sie bitte sofort einen Boy mit dem Schlüssel herauf.«