Hotzenplotz 3
Otfried Preußler
Zeichnungen von F. J. Tripp
Dieses Buch widme ich
ALLEN MÄDCHEN
UND
BUBEN,
die bei mir angefragt haben,
wie es mit
Kasperl, Seppel, Wasti und Hotzenplotz weitergeht
Der Mann in den Gartenbüschen
Einmal ging Kasperls Großmutter mit dem Wäschekorb in den Garten, um hinter dem Haus ein paar Hemden und Handtücher auf die Leine zu hängen.
Es war ein schöner goldener Herbsttag. Die Astern blühten, die Sonnenblumen grüßten vom Zaun herüber, auf dem Komposthaufen in der Gartenecke reiften die Kürbisse: fünf große, neun mittlere und sechs kleine. Großmutter hatte sie eigens gezüchtet, nach einem Geheimrezept ihrer Schwiegertante. Die Kleinen sollten nach Aprikosen schmecken, die Großen nach Schokolade, die Mittleren außen nach Schlagsahne, innen nach Himbeereis.
Kasperl und Seppel machten sich nichts aus Kürbissen. Desto größer, so hoffte Großmutter, würde die Überraschung sein. „Wenn nur das Wetter noch ein paar Tage schön warm bliebe", dachte sie. „Das ist augenblicklich die Hauptsache."
Sie setzte den Korb mit den Hemden und Handtüchern auf dem Trockenplatz ab und wollte gerade beginnen die Wäscheschnur nachzuspannen, da machte es in den Büschen „pscht!" – und als Großmutter hinschaute, sah sie zwischen der Goldrute und dem Haselstrauch das Gesicht
eines Mannes auftauchen, den sie leider nur zu gut kannte: Schon zweimal war sie von diesem Strolch mit dem schwarzen Hut und der langen Feder beraubt und einmal sogar entführt worden.
„Diesmal", beschloss sie, „soll ihm das nicht gelingen!" Dann fasste sie sich ein Herz und fragte mit fester Stimme, die nur ganz wenig zitterte, aber das merkte vermutlich nur sie allein:
„Sind Sie schon wieder einmal in meinem Garten, Herr Hotzenplotz?"
„Wie Sie sehen."
Der Räuber nickte und wollte aus seinem Versteck hervorkommen. Großmutter griff nach dem Sack mit den Wäscheklammern.
„Keine Bewegung!", rief sie. „Sonst haue ich Ihnen den Klammersack um die Ohren, dass Sie in keinen Hut mehr hineinpassen – Hände hoch!"
Hotzenplotz konnte nicht ahnen, dass Großmutter neuerdings vor dem Einschlafen immer Räubergeschichten las. Vorsichtshalber nahm er die Hände hoch und versicherte, dass er nicht etwa in böser Absicht gekommen sei.
Großmutter schnitt ihm das Wort ab.
„Sparen Sie sich die dummen Ausreden!", fuhr sie ihn an. „Ich möchte bloß wissen, wie Sie es diesmal wieder geschafft haben – wo es doch heißt, das Kreisgefängnis sei absolut ausbruchsicher."
„Das ist es auch", sagte Hotzenplotz.
„Und wie kommen Sie dann hierher?"
„Ich bin heute früh wegen guter Führung entlassen worden – vorzeitig."
Großmutter meinte nicht recht zu hören.
„Sie können mir viel erzählen, Herr Hotzenplotz!"
Hotzenplotz legte drei Finger aufs Herz.
„Ich will auf der Stelle tot umfallen und die Masern kriegen, wenn ich Sie anlüge! Außerdem steht es auf meinem Entlassungsschein." Er zog aus der Westentasche ein Blatt Papier hervor. „Da – wenn Sie mir nicht glauben!"
Großmutter trat einen Schritt zurück, ihr war ein Gedanke gekommen. Hoffentlich schöpfte der Räuber keinen Verdacht.
„Ich kann das nicht lesen", sagte sie. „Dazu brauche ich meinen Zwicker."
„Was denn!", rief Hotzenplotz überrascht. „Sie tragen den Zwicker ja auf der Nase, hö-hö-hö!"
„Diesen da?" Großmutter war nicht verlegen um eine Antwort; sie staunte, wie gut das ging. „Dies ist mein Fernzwicker", sagte sie. „Damit kann ich nicht lesen. Zum Lesen brauche ich meinen Nahzwicker."
Sie tat einen Griff in die linke Schürzentasche, dann stutzte sie, griff in die rechte Tasche und stutzte wieder. Obzwar sie im Schwindeln nicht übermäßig geübt war, machte sie ihre Sache großartig.
„Es ist wirklich zu dumm mit den beiden Zwickern! Ständig lasse ich irgendwo einen liegen. Der Nahzwicker, glaube ich, liegt im Waschhaus – links hinten, neben dem Waschkessel auf dem Wandbord ... Sie könnten nicht ausnahmsweise so nett sein, Herr Hotzenplotz, und ihn mir holen?"
„Aber natürlich, Großmutter!"
Hotzenplotz faltete das Papier zusammen und steckte es ein. Dann ging er zum Waschhaus – und Großmutter schlich ihm nach.
Außer zwei winzigen Gitterfenstern aus Milchglas hatte das Waschhaus nur eine einzige Tür. Hotzenplotz wusste das nicht, doch Großmutter wusste es umso besser. Sobald er das Waschhaus betreten hatte, schlug sie die Tür zu und legte den Riegel vor. Dann drehte sie zweimal den Schlüssel im Schloss herum, zog ihn ab und verstaute ihn in der Schürzentasche.
„Den Rest mag die Polizei besorgen!"
Bisher hatte Kasperls Großmutter keine Zeit gehabt sich zu fürchten. Jetzt erst, wo Hotzenplotz in der Falle saß, bekam sie das große Zittern: Es wurde ihr abwechselnd heiß und kalt vor Angst, der Garten begann sich zu drehen. Sie spürte, wie ihr die Füße den Dienst versagten. Mit letzter Kraft schrie sie:
„Hilfe! Zu Hiiilfeee!"
Dann schloss sie die Augen und fiel in Ohnmacht.
Frau Schlotterbeck hat einen schlechten Tag
Kasperl und sein Freund Seppel waren in letzter Zeit oft bei der Witwe Schlotterbeck zu Besuch. Sie hatten ihr ja versprochen, dass sie sich etwas einfallen lassen wollten, um Wasti, dem Krokodilhund, wieder zu seinem früheren Aussehen zu verhelfen. Seither bewirtete sie Frau Schlotterbeck jedes Mal, wenn sie kamen, mit Tee und Wurstbrot.
Auch heute ließen sich Kasperl und Seppel den Tee und die Brote schmecken. Frau Schlotterbeck, die im Lehnstuhl neben dem Fenster saß, zog traurig an einer dicken schwarzen Zigarre. Wasti lag ihr zu Füßen, er ließ ein zufriedenes Knurren hören und wackelte mit dem Schwanz.
Ihn störte es wenig, dass er in jungen Jahren ein Langhaardackel gewesen war, bis ihn Frau Schlotterbeck eines Tages versehentlich in ein Krokodil verhext hatte. Umso mehr litt Frau Schlotterbeck unter diesem Missgeschick. Kasperl und Seppel kannten zwar die Geschichte längst auswendig; aber sie hörten auch diesmal wieder geduldig zu, als ihnen Frau Schlotterbeck alles noch einmal von vorn erzählte: wie es zu Wastis Verhexung gekommen war; wie sie auf jede erdenkliche Weise versucht hatte ihn zurückzuhexen – und wie ihr das nicht gelungen war.
„Zuletzt bin ich so verzweifelt gewesen, dass ich das Hexenbuch kurzerhand in den Ofen gesteckt und verbrannt habe", schloss sie. „Ich bin eine staatlich geprüfte Hellseherin, aber keine gelernte Hexe. Man soll im Berufsleben möglichst die Finger von Dingen lassen, von denen man nichts versteht."
„Trotzdem!", erwiderte Kasperl. „Hätten Sie doch das Buch nicht ins Feuer geworfen, sondern es Seppel und mir geschenkt!"
Frau Schlotterbeck schnauzte sich in den Saum ihres Morgenrockes, den sie auch tagsüber stets zu tragen pflegte und fragte mit ihrer tiefen, verräucherten Stimme: „Euch beiden?"
„Dann hätten wir Wasti bestimmt schon helfen können! Aber verbrannt ist verbrannt – und nun müssen Sie eben leider Geduld haben."
Auf Großmutters Dachboden hingen zahlreiche Säckchen und Beutel herum: Die einen waren mit Krautern und Wurzeln gefüllt, die anderen mit getrockneten Blättern und Rindenstücken – alles erprobte Mittel, die Großmutter anwandte, um die verschiedenartigsten Krankheiten zu kurieren.
„Vielleicht", hatten Kasperl und Seppel sich überlegt, „sind welche darunter, die zufällig gegen Verhexung helfen, wie andere gegen Bauchweh und Schüttelfrost ..."