Diese Nacht war erfüllt von emsiger Tätigkeit zahlreicher Amerikaner und befreiter Österreicher. Die ›Operation Chicken‹, wie George Misaras sie getauft hatte, leiteten Jakob Formann und Tommy Lewis, der dritte Fluglotse, der deutsch sprach und Biologie studierte. Tommy Lewis wurde im Laufe der folgenden Jahre auf Grund seiner fünfzehnprozentigen Beteiligung reicher und reicher. Heute ist er in Chicago ein ganz ungewöhnlich reicher Mann, der zur Verblüffung seiner Freunde und Nachbarn nach der Entlassung aus der Army (1948) niemals auch nur einen einzigen Tag gearbeitet hat. Die fünfzehn Prozent haben genügt.
Jakob und Tommy hatten einen idiotensicheren Plan entwickelt, nachdem die Mannschaft der ›Flying Fortress‹ sich aufs Ohr gehauen hatte und sofort tief und traumlos eingeschlafen war. Auch die beiden anderen Lotsen des Nachmittags waren abgelöst worden. Jakob machte in dieser Woche immer von 16 bis 24 Uhr Dienst, und für den gleichen Zeitraum waren seine drei MP-Freunde eingeteilt, die er in den Plan eingeweiht hatte. Sie waren voller Hilfsbereitschaft. Misaras sorgte dafür, daß seine Crew sofort von einer anderen abgelöst wurde. Die neue Crew war der alten durch gemeinsame Schiebereien innig verbunden.
Am aufgeregtesten war Mojshe. »Mein Großvater«, gab er bekannt, »hat zehn Kilometer hinter Tarnopol auch Hühner gehabt!«
Als er dann mit seinen Freunden in das Innere der ›Fliegenden Festung‹ kletterte, sackte er allerdings auf dem Pilotensitz zusammen vor Schreck und stöhnte: »Gott der Gerechte …!« Alle stöhnten. Fast alle.
Misaras: »Gott steh uns bei!«
Jesus: »Das muß der alte Herr mit dem weißen Bart jetzt aber auch wirklich tun!«
Jakob stöhnte nicht. Ihm hatte es vor Schreck das Stöhnen verschlagen: Eintausend Kisten zu je vierzig Stück – da waren sie, im Laderaum der umgebauten ›Fliegenden Festung‹. Ein furchterregender Anblick. Daran änderte auch nichts, daß aus vielen Kisten leises Piepsen erscholl. Im Gegenteil!
Stumm ließ Jakob sich auf den Sitz des Copiloten sinken.
»Andererseits«, sagte Mojshe, der sich schon wieder erholt hatte, »ist das nicht unsere Angelegenheit! Colonel Hobson hat Befehl gegeben, die Fracht zu verbrennen. Mündlich und schriftlich. Jake und dieser Tommy Lewis haben sich sofort freiwillig gemeldet. Der Colonel, dieses Arschloch, hat Tommy gesagt, er kann so viele Kumpels und Laster und Benzin anfordern, wie er braucht! Die Kumpels werden die Kisten auf die Laster laden.«
»Ja, und wir vier, wir fahren nur die Laster hin und her.«
»Na bitte!«
»Was ist denn dieses ganze Zeug da drüben?« fragte Jesus.
»Das«, belehrte ihn Mojshe, »sind Brutmaschinen. Haben die gleich mitgeliefert. Das Feinste vom Feinen. Elektrisch beheizt, da sind die Anschlüsse! Küken brauchen nämlich Wärme. Habt ihr Strom in eurem Drecksnest?«
»Ja«, sagte Jakob. »Und Gott sei Dank Drecksnest. In Linz fällt der Strom doch dauernd aus, oder es gibt Sperren. Wir haben am Bach unseren eigenen Generator.«
»Und womit willst du die Küken füttern?«
»Maiskörner und Fischmehl«, sagte Jakob.
»Aber in deinem fucked-up Austria gibt es doch weder …«
»Im beschissenen Österreich nicht, Burschi«, sagte Jakob und wies in den Laderaum. »Aber hier. Denkst du, unsere amerikanischen Freunde und Helfer liefern uns Küken ohne was zu fressen? Da hinten, die Säcke! Was steht drauf?«
»›Mais und Fischmehl United States Army‹ steht darauf«, murmelte Jesus beeindruckt. »Woher hast du gewußt, daß die Säcke auch in der Maschine sind?«
»Hab’ ich mir ausgerechnet«, sagte Jakob bescheiden.
»Deine Küken können aber doch noch keine Maiskörner runterwürgen, Jake!«
»Natürlich nicht! Die kriegen zuerst Wasser und dann Spezialfutter! Da drüben, die anderen Säcke!« Er sah aus der Einstiegluke, denn ein schwerer Laster hatte neben dem umgebauten Bomber gehalten.
»Wir bringen die Trucks«, flüsterte der GI am Steuer. Er trug Arbeitskleidung und Schildmütze. Auf Motorhaube und an die Seiten des Lasters waren große weiße Sterne gemalt und die Buchstaben USACE – UNITED STATES AIR CORPS EUROPE.
»Okay. Ihr kommt rein und ladet aus. Wir fahren die Trucks«, sagte Jakob.
»Wie viele seid ihr?«
»Vier Laster, dreißig Mann hat Tommy angefordert.«
»Na, dann hurtig, meine Herren, hurtig«, sagte Jakob. »Und daß mir keiner ein Ei klaut. Da ist der Tod drin!«
9
Hei, war das ein Feuerchen!
Dreißig Meter hoch stiegen die Flammen! Was so erstklassiges Flugbenzin ist, das brennt vielleicht!
Kiste um Kiste flog in das Feuerchen! Die Männer, welche da arbeiteten, schwitzten. Sie ließen ein paar Flaschen Bourbon kreisen und sangen wüste Lieder. Immer neue Laster brachten immer neue Kisten. Andere Laster (vier insgesamt) rollten in einiger Entfernung an dem Feuerchen vorüber, verschwanden in der Dunkelheit, kehrten wieder nach einer Weile und rollten durch den Eingang B zu der ›Flying Fortress‹. Die elektrische Beleuchtung bei Eingang B war aus unerklärlichen Gründen gerade in dieser Nacht ausgefallen.
Die Männer in der ›Flying Fortress‹ hoben, behutsam wie Gehirnchirurgen, Kiste nach Kiste auf die vier Laster, die von Jakob und seinen MP-Freunden gefahren wurden. Ein Haufen andere Männer – von Tommy Lewis überwacht – wuchteten andere Kisten auf andere Laster – alles, was sich an Holz und Kartons hinter der Mess Hall des Airfield bereits zu bedrohlichen Höhen schichtete: leere Holzkisten und Pappschachteln, in denen Verpflegung, geistige und ungeistige Getränke, Zigaretten, Zigarren, Schallplatten, die Bücher der Fliegerhorst-Bibliothek angeliefert worden waren – ein Skandal, wie es da hinter der Mess Hall aussah. Da mußte wirklich mal Ordnung gemacht werden, meinten Tommy Lewis und Jakob Formann. Natürlich fuhren auch Laster mit Flugbenzin hinaus auf den wüsten Acker unter dem Tor B, das seit Adolf Hitlers Tod nicht mehr geöffnet worden war. Pfeifend, saufend, ein munteres Liedchen auf den Lippen – so arbeitete die zweite Mannschaft fröhlicher Dinge.
Jakob, dessen Truck als erster mit den Kisten aus der ›Fliegenden Festung‹ vollgeladen worden war, rollte denn auch als erster an dem hübschen großen Feuerchen hinter Tor B vorbei. Die Jungs dort, die unentwegt Abfall und alte Kisten ins Feuer warfen, winkten ihm grölend nach. Jakob hupte anerkennend und holperte sodann (in den Kisten piepste es gequält) über den Acker bis zu der Straße nach Theresienkron. Hier konnte er schneller fahren. Im Rückspiegel sah er Lichter. Das ist Mojshe mit dem zweiten Laster, dachte er. Hinter ihm wurde kurz das Fernlicht aufgeblendet. Na also, dachte Jakob zufrieden. Wenn den Knaben da auf dem Acker bloß nicht das Zeug ausgeht, bevor wir das letzte Küken draußen haben. Mein Gott, was für ein schönes Feuerchen! (Es war, geneigter Leser, jenes schöne Feuerchen, das unser Freund zwanzig Jahre später, in einer Astgabel über der Mangfallschlucht hängend, vergebens sich ins Gedächtnis zu rufen bemüht war, das hübsche große Feuerchen, mit dem, wie er 1965 rückblickend mit Fug und Recht meinen konnte, alles begonnen hatte.) Damit hätten wir auch das klargestellt.
10
Kein Mensch in Theresienkron schlief in dieser denkwürdigen Nacht, die noch heute, dreißig Jahre später, festlich begangen wird mit Musik und Tanz, gewaltigem Fressen und noch gewaltigerem Suff. Nur die Babys und die ganz Alten und Siechen waren in Ruhe gelassen worden. Im übrigen hatte, wie Jakob bei seinem ersten Eintreffen gerührt sah, der Hase alles bis ins letzte vorbereitet. Bauern, Bäuerinnen, der Geistliche Herr, Knaben und Mädchen standen bereit, um die anrollenden Laster abzuladen. In Windeseile geschah diese Arbeit. In gleicher Windeseile wurden die einzelnen Kisten zu den einzelnen Höfen (eine in das Gärtlein hinter dem Kirchlein) gebracht – auf Leiterwagen, Kinderwagen, einem Leichenwagen mit zwei halbverhungerten Pferden. Jakob sah, wie der Hase das Entladen und Verteilen leitete. Hätte Julia den Krieg geführt anstelle unserer ach so tapferen Generäle, dachte Jakob erschrocken, dann hätten wir ihn, Gott soll abhüten, am Ende noch gewonnen! Er rief nach ihr. Sie winkte. Ach ja, dachte er, ich weiß schon, was ich habe an meinem Hasen. Wendete und fuhr zurück zum Fliegerhorst.