»Ach, so eine Gemeinheit, und ich war gerade kurz vor …«
»Was ist los?« brüllte der Bär in höchster Erregung. Und in englischer Sprache.
»Öffnen Sie sofort die Tür!«
»Ich denke nicht daran!« tobte der Bär.
Der Schreier muß dem Akzent nach Texaner sein, dachte er.
»Wenn Sie die Tür nicht sofort öffnen, treten wir sie ein!«
»Mein Gott, ist das peinlich«, flüsterte der seidenweiche Hase.
»Tut mir leid«, sagte Jakob und zog sich von Julia zurück. »Du kennst die Texaner nicht. Die sind zu allem fähig.« Zornig brüllte er: »Ich bin nackt! Ich muß mir was anziehen!«
»Aber schnell!«
Jakob fuhr in eine Unterhose der US-Army und raste zur Tür. Der Hase zog die rot und weiß karierte Decke hoch bis zum Hals.
»Ich zähle bis drei!« schrie der Kerl draußen. »Eins … zwei …«
Jakob hatte die Tür erreicht und sperrte auf. Ein riesiger Texaner (also mit Akzenten kenne ich mich aus, dachte der Bär) trat in den Raum, gefolgt von zwei kleineren Sergeanten.
»First Lieutenant Dooley vom Provost Marshal Linz«, brüllte der Texaner.
»Was fällt Ihnen ein?« brüllte Jakob zurück. »Was wollen Sie hier?«
Der Oberleutnant aus Texas wies ein Dokument vor.
»Wissen Sie, was das ist, Formann?«
»Immer noch Mister Formann für Sie! Das ist ein Haftbefehl!«
»Richtig. Ausgestellt auf wen?«
»Ausgestellt auf Jakob Formann«, sagte Jakob hochnäsig. Den Schreck bekam er mit Spätzündung. Er sprang richtig in die Höhe dabei. »Jakob Formann!« schrie Jakob Formann. »Das bin doch ich! Aber … aber wieso? Wie lautet die Anklage?«
»Mord an vierzigtausend Küken!«
13
HEUTE UND JEDEN ABEND UM 19 UHR:
DER HEILIGE GEIST WIRD ZU UNS KOMMEN!
(MIT ERLAUBNIS DER MILITÄRREGIERUNG)
Die Worte standen auf einer Papptafel, die neben den Eingang einer Kirche gehängt worden war. Ja, bei den Brüdern herrscht jetzt Hochbetrieb, dachte Jakob. Krieg anfangen, Krieg verlieren, Neunte Symphonie von Beethoven spielen, Händchen falten, in die Kirche gehen …
»Now get the hell out of this jeep, you son-of-a-bitch«, sprach der amerikanische Befreier. Jakob stieg aus.
Die Kirche befand sich im Zentrum von Linz. Das Zentrum von Linz war im Krieg arg zerbombt worden. Trümmerschutt von eingestürzten Häusern und Dreck aller Art, dazwischen die Reste von zerstörten Wohnungseinrichtungen, verstopften hier immer noch die Straßen. Autos der Amerikaner (andere gab es nicht) fuhren Slalom durch die Ruinenstrecken. Die Trümmer waren noch immer da – nicht etwa, weil man, auch in Linz, der österreichischen Devise frönte ›Ana wird’s scho wegrama!‹ –, nein, nicht deshalb, sondern weil man in Linz auf Anordnung der Militärregierung sogenannte ›Ziegelschupfbrigaden‹ aus ehemals großkopfeten Parteigenossen und ›Goldfasanen‹ zusammengestellt hatte. Die beherrschten alle möglichen Berufe, in denen sie jetzt Berufsverbot hatten. Das Trümmerwegräumen war ihre Strafe! Sie hatten es nur nie gelernt. Aber wie es so geht, waren viele, die das Schaufeln gelernt hatten, auch stramme Nazis gewesen und standen jetzt gleichfalls unter Berufsverbot. Sie hätten den Schutt wegräumen können! Aber sie durften nicht. Zur Strafe!
Der Kirche gegenüber befand sich ein großes Gebäude, in dem bis vor kurzem noch die Gestapo residiert hatte. Dieses Gebäude war natürlich stehengeblieben. Jetzt residierte hier der Provost Marshal. »Da rein!« Der Texaner schubste Jakob ins Haus. Die beiden Sergeanten folgten mit schußbereiten Pistolen. Jeder Versuch des Küken-Genozid-Täters, auszureißen, war sinnlos.
Jakob wurde in den zweiten Stock geführt. Ein Gang. Eine Tafel mit der Aufschrift OFFICE PROVOST MARSHAL. Mechanisch steuerte Jakob die Richtung. Der Texaner packte ihn an den Schultern, drehte diese um neunzig Grad und wies auf eine kleine Tür am Ende des dunklen Ganges. Also marschierte Jakob gelassen, wie es seinem Leckt-mich-am-Arsch-Standpunkt wohl anstand, den dunklen Gang hinunter. Der Texaner klopfte, riß die Tür auf, salutierte (so taten’s auch die beiden Sergeanten) und meldete Jakob Formanns Ankunft. Dann stieß er den Verhafteten in ein kleines Büro und knallte die Tür hinter ihm zu.
Jakob taumelte vorwärts und kam erst knapp vor einem Schreibtisch zum Stehen. Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann in Uniform, der eine Nickelbrille trug.
Der Mann erhob sich.
Jakob lächelte gewinnend und sagte englisch: »Habe die Ehre, Lieutenant, Sir. Schönes Wetter heute, nicht wahr?«
Der Lieutenant, der einen bedrückten Eindruck machte, antwortete darauf höflich deutsch, mit Frankfurter Akzent: »Wohlsein.«
»Ich habe nicht geniest, Lieutenant, Sir«, sagte Jakob.
»Ich habe auch nicht gesagt, daß Sie geniest haben, Herr Formann.«
»Sie haben aber ›Wohlsein‹ gesagt.«
»Ja.«
»Warum?«
»Weil ich so heiße. John Albert Wohlsein.«
»Sehr erfreut, Lieutenant Wohlsein.«
Die Herren schüttelten einander die Hände. Wohlsein hielt eine Packung Lucky Strike hin. Graziös nahm Jakob sie an sich.
»Lieutenant stammen aus Frankfurt?« forschte Jakob.
»Aus Offenbach, Herr Formann. Bitte, setzen wir uns doch.«
Es folgte eine längere Pause.
Wohlsein preßte die Fingerspitzen beider Hände aneinander und sah immer bedrückter aus.
»Warum sehen Sie so bedrückt aus, Sir?« fragte Jakob, der Mitleid empfand.
»Weil ich immer bedrückter werde«, antwortete Wohlsein. Seiner Gemütslage entsprach der Helligkeitsgrad des Büros. Obwohl draußen die liebe Sonne lachte, war es im Zimmer dämmrig. Das Fenster hatte nämlich keine Glasscheiben. Die meisten Fenster in den Städten Österreichs und Deutschlands hatten damals keine Glasscheiben. Alles war bei Luftangriffen zerbrochen. Jeder half sich, wie er konnte. In Wohlseins Büro trug die Fensteröffnung eine Sperrholzplatte mit sehr vielen Ausschnitten. In den Ausschnitten klebten Röntgenaufnahmen der Innereien zahlreicher Unbekannter. Man sah die verschiedensten Körperteile – Brustkörbe, Lungen, Schädel, Mägen, Därme. Voll dankbarer Erinnerung an nicht wenige Lazarettaufenthalte, die alle sehr lehrreich für ihn gewesen waren, erkannte Jakob jegliches Organ sogleich. An den hellen Stellen der Aufnahmen sickerte Tageslicht in das Büro, das meiste kam durch die Aufnahme eines prächtigen Thorax o.B.
»Warum werden Sie denn immer bedrückter, Sir?« fragte Jakob.
»Weil ich der Adjutant des Provost Marshal bin.«
»Aha.«
»Seinem Adjutanten überträgt der Provost Marshal immer die unangenehmsten Aufgaben. Hier, in diesem Abstellraum. Er sitzt vorne in einem herrlichen Raum und bei schönstem Tageslicht. Seine Affären läßt er mich hier, in diesem dreckigen Loch, in Ordnung bringen. Abseits. Versteckt. Damit möglichst keiner weiß, daß bei uns ab und zu was passiert.«
»Aha«, sagte Jakob zum zweitenmal und dachte, zu dem provisorischen Fenster blickend: Mit dem Magengeschwür ist, wer immer, hoffentlich gleich zum Chirurgen gerannt!
Wohlsein schlug kraftlos auf ein paar Papiere, die vor ihm lagen.
»Schöne Schweinerei«, sagte er dazu.
»Was, bitte?«
»Das da ist ein Rapport, den uns Colonel Hobson vom Hörsching Airfield gestern abend noch geschickt hat.«
»Eiweh«, sagte Jakob.
»Sie haben leicht Eiweh sagen«, beklagte sich Wohlsein. »Aber ich muß sehen, wie wir diesen fucked-up shit aus der Welt schaffen.« Er fügte hastig hinzu: »Colonel Hobson ist ein vorbildlicher Offizier!«
»Ich habe Colonel Hobson nur …«
»Halten Sie bloß den Mund, Herr Formann, ja? Enteneier! Fleckfieber! Epidemie, Seuchengefahr! Alle Westmorelands verbrennen, auf der Stelle! Vierzigtausend Westmorelands!« Wohlsein erhob sich zu seiner ganzen riesigen Größe und trat an das eigenwillige Fenster. Er wandte Jakob den Rücken.
Eijeijeijeijei, dachte der.
Na ja. Wie Gott will. Was werde ich kriegen? Zwei Jahre? Drei Jahre? Fünf? Und meine Freunde? Ich nehme alle Schuld auf mich, das ist klar. Aber wird das helfen?
»Hören Sie mal zu, Herr Formann«, sagte Wohlsein dumpf, während er, die auf dem Rücken ineinander verkrampften Hände öffnend und schließend, durch einen Gebärmutterhals auf die Straße hinausblickte. »Habe ich Ihr Ehrenwort …«