»Na, ich freue mich aber doch, Schreiber! Nur eines ist mir unheimlich. Sind Sie wirklich der Schreiber? Haben Sie keinen Zwillingsbruder?«
»Nein, warum, Chef?«
»Der Schreiber, den ich gekannt habe, der alte Saufaus, der hat immer gestottert, aber wie!«
»Das war ich, Chef! Ich!«
»Sie? Und jetzt … jetzt reden Sie ganz fließend?«
»So ist es, Chef. Nach der Entwöhnungskur war es mit der Stotterei vorbei. Weiß ich, warum! Zuerst habe ich auch einen mächtigen Schreck gekriegt und gedacht, ich bin nicht mehr der alte und werde nie mehr schreiben können ohne Saufen und Stottern, aber das hat mir der Cornel dann ausgeredet.«
»Unglaublich! Meinen herzlichsten Glückwunsch!«
Schreiber wurde ernst.
»Sie haben einen hübschen kleinen Zusammenbruch gehabt, höre ich.«
»Habe ich auch. Die Idioten hier sagen zwar, ich bin vollkommen gesund, aber ich fühle mich nicht so«, bekannte Jakob. »Ich fühle mich beschissen! Kommen Sie mal näher, Schreiber. Noch näher, ich muß es Ihnen ins Ohr sagen, es darf kein anderer hören …«
»Um was handelt es sich denn?«
»Ich habe solche entsetzlichen Schuldgefühle!«
»Weshalb?«
»Wegen einer Steuergeschichte!«
»Was für eine Steuergeschichte?«
Jakob flüsterte in Schreibers Ohr …
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»Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Chef«, sagte Schreiber sechs Minuten später. »Da muß ich Ihnen sofort etwas Lustiges erzählen. Mir hat es der Cornel erzählt. Also: Vater und Mutter kommen zum Psychiater. Vollkommen verzweifelt. Warum sind Sie so verzweifelt? fragt der Psychiater. Wegen unserem Sohn, Herr Doktor. Was fehlt denn dem Herrn Sohn? Er pischt jede Nacht ins Bett, Herr Doktor. Na ja, na ja, sagt der Doktor, das tun viele. Wie alt ist denn Ihr Sohn? Fünfzehn, Herr Doktor. Hm, hm, hm, sagt der Psychiater. Da ist er schon ein bißchen zu alt dafür – eigentlich! Das ist es ja, heult die arme Mutter los. Deshalb hat der Bub ja auch so entsetzliche Schuldgefühle! Daraufhin sagt der Psychiater: Also, passen Sie auf, wir werden das schon in Ordnung bringen. Schicken Sie mir Ihren Herrn Sohn her, sagen wir morgen um vier. Danke, Herr Doktor, sagt der Vater. Und am nächsten Tag um vier kommt der Sohn zum Psychiater. Große Zeitblende! Ein dreiviertel Jahr später trifft der Psychiater den Vater auf der Straße. Hallo, ruft er. Wie geht’s? Ausgezeichnet, strahlt der Vater. Und wie geht es dem Herrn Sohn, den ich behandelt habe? Auch ausgezeichnet, lieber Herr Doktor, wir werden Ihnen nie genug danken können!
Ah, sagt der Psychiater mit stolzer Bescheidenheit, meine Behandlung hat also hingehauen? Und wie! jubelt der Vater. Und wie, Herr Doktor! Also, der Herr Sohn pischt nicht mehr ins Bett? fragt der Arzt. Schaut ihn der Vater groß an und sagt: Aber natürlich pischt er noch ins Bett, Herr Doktor. Nacht für Nacht! Wie früher! Aber jetzt ist er stolz drauf! Und Schuldgefühle hat er überhaupt keine mehr!« Schreiber verschluckte sich bei seinem Heiterkeitsausbruch. »Gut, was? Schuldgefühle hat er überhaupt keine mehr!«
Jakob lag ganz still.
»Was ist denn? Hat Ihnen der Witz nicht gefallen?«
»Nein, Schreiber«, sagte Jakob.
»Wieso nicht?«
»Sie wollten mich trösten, das war lieb von Ihnen. Aber sehen Sie, wenn Sie diese Geschichte da erzählt haben, um den Herrn Sohn mit mir zu vergleichen – dann stimmt das nicht! Ich habe nie ins Bett gepischt, und trotzdem habe ich Schuldgefühle, das ist ja das Entsetzliche!«
»Nie ins Bett … Ah, Sie meinen, Sie haben nie die Steuer beschissen!«
»So ist es. Das hat doch der Arnusch Franzl gemacht!«
»Na, den haben Sie doch aber rausgefeuert, Chef!«
»Stimmt. Aber ich kann das, was er ins Bett ge … äh, was er gegen die Steuer verbrochen hat, nicht mehr gutmachen. Sonst bin ich pleite.« Schreiber schlug auf die Bettkante.
»Jetzt übertreiben Sie aber, Chef! Jetzt machen Sie Theater, jetzt reden Sie sich in was hinein!« Klaus Mario Schreiber neigte sich über Jakob. »Chef, Sie müssen raus aus diesem Teufelskreis! Ich, ich habe ja inzwischen auch ein bißchen Psychiatrie gelernt – nicht freiwillig. Sie reden sich da in einen Schuldkomplex hinein! Mehr und mehr! Das dürfen Sie nicht tun! Sie gehen mir ja sonst noch zugrunde! Die Steuer hat der Arnusch beschissen und nicht Sie! Das müssen Sie sich hundertmal am Tag sagen! Und auch das: Ich habe es nicht gewußt. Mich trifft daran keine Schuld. Als ich es wußte, habe ich den Kerl sofort rausgeschmissen. Daß ich den Schaden nicht mehr gutmachen kann, ist auch nicht meine Schuld, das liegt an der Zeitentwicklung, an den Umständen … So müssen Sie denken, Chef! Sie sind doch ein großer Mann! Der größte, den ich kenne! Und das wollen Sie doch noch lange bleiben – oder?«
»Eigentlich schon«, sagte Jakob nach gründlichem Überlegen.
»Eben. Übrigens komme ich gerade deshalb zu Ihnen!«
»Weshalb?«
»Ich muß mit Ihnen reden. Grundsätzlich. Ich werde mein Leben ändern. Sie müssen auch manches in Ihrem Leben ändern. Die Zeiten sind nicht mehr so, wie sie waren. Oder vielleicht sind sie es noch, aber sie werden es nicht mehr lange bleiben.«
Jakob fuhr hoch.
»Sie meinen, es wird einen wirtschaftlichen Rückschlag geben?«
»Wird?« Schreiber schüttelte den Kopf. »Muß, Chef, muß! Oder meinen Sie, mit unserem Schlaraffenparadies geht das immer so weiter und weiter?«
»Hm …« Jakob sah Schreiber grübelnd an. »Ich kann es noch immer nicht fassen, daß Sie nicht mehr saufen und nicht mehr stottern«, sagte er.
»Es wird bald eine Zeit kommen, in der viele vieles nicht fassen können, Chef! Schauen Sie: Wir überreißen einfach alles. Wir glauben hier in Deutschland, uns ist keiner gewachsen, wir können immer und immer so weitermachen! Das ist der große Irrtum! Bei Ihren vielen anderen Geschäften, da kenne ich mich nicht aus. Aber bei OKAY schon!«
»Die Auflage von OKAY ist so hoch wie noch nie!«
»Eben drum.«
»Was ›eben drum‹?«
»Eben drum müssen Sie OKAY verkaufen«, sagte Klaus Mario Schreiber.
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»Verkaufen?« echote Jakob Formann.
»Und zwar gleich! Jetzt, wo Sie noch am meisten dafür kriegen! Jeder Auflage sind Grenzen gesetzt. Bei OKAY ist diese Grenze erreicht, wenn nicht schon überschritten. Die Auflage kann nur noch fallen – und wenn wir noch so gut sind! Gute Illustrierte werden bald schon nicht mehr gefragt sein, Chef! Die Zeiten haben sich auch hier geändert! Alles hat sich geändert, Chef, alles!«
»Zum Beispiel was, Schreiber?«
Schreiber sagte (in fließender Sprache und mit melodiöser Stimme), was sich zum Beispiel geändert hatte, obwohl es den Deutschen noch wie Gold ging …
Also zum Beispieclass="underline"
In der Stahlindustrie wurden Massenentlassungen für das übernächste Jahr erwogen.
Bonns jüngstes Volksaktien-Papier VEBA war auf dem besten Wege, unter die Ausgabequote zu sinken.
Das Bundeswirtschaftsministerium sagte für die Bundesrepublik Deutschland voraus, daß die Wachstumsrate von noch 4,4 Prozent auf 3,4 Prozent zurückgehen würde.
Im Jahresbericht der Industrie- und Handelskammer Dortmund hieß es, daß zwar noch alles in Ordnung sei, daß indessen schon das Jahr 1966 ›erstmalig eine echte Krise‹ bringen könne. Das Investitionsklima sei schon merklich abgekühlt, außerdem müsse mit scharfen Arbeitskämpfen gerechnet werden …
»… und so weiter und so weiter«, sprach Klaus Mario Schreiber. »Diese Warnsignale für die nahe Zukunft – ich interessiere mich sehr für Wirtschaft, wissen Sie, Chef – werden sehr bald eine Wohlstandsgesellschaft beunruhigen, für die der Konsum längst nicht mehr nur der Abwehr materieller Not dient!«
Jakob war nachdenklich geworden.
»Erinnern Sie sich, Chef!« bat Schreiber. »1947 haben sich die Menschen noch mit Tonseife den Dreck vom Körper geschabt. Im nächsten Jahr, so die Voraussage, werden sie eintausendundzweiunddreißig Millionen Mark für Körperpflegemittel ausgeben. Das geht überall so! Erich Kuby, dieser prima Kerl und gescheite Autor, hat über ›die Plage mit dem Wohlstand‹ geschrieben, und daß ihretwegen die ›Zeit der schönen Not‹ vergessen worden ist! Die Alten unter den Wunderkindern sind ohnedies der Ansicht, daß das alles auf die Dauer nicht so weitergehen kann! Die erinnern sich noch an die Zeit, in der in Frankfurt Vitaminpillen verteilt worden sind und ein Göttinger Universitätsprofessor der Bevölkerung geraten hat: ›Schlaft mehr und geht früher ins Bett, denn dadurch spart ihr Kalorien!‹«