Jakob schüttelte den Kopf.
»Schreiber, Sie gefallen mir nicht. Ihnen fehlt der Whisky. Besoffen waren Sie immer so lustig und optimistisch. Jetzt, nüchtern, sind Sie ein altes Klageweib, das mir Angst machen will!«
»Ich will Ihnen keine Angst machen, Chef. Ich habe Sie sehr, sehr gerne. Sie waren immer gut zu mir. Ich will Sie warnen und beschützen.«
»Das ist lieb von Ihnen, aber Sie übertreiben!«
»Ich übertreibe gar nicht!« Schreiber regte sich auf. »Erinnern Sie sich! 1947, im Hochsommer, hat man in Deutschland – einmalig in der Welt! – ein sogenanntes ›Speisekammergesetz‹ erlassen! Den letzten Brotkrümel hat man deklarieren müssen! Die feinsten Leute haben in städtischen Parks Brennholz gestohlen. Und haben eine ›Kochhexe‹ gehabt – ein abgeschnittenes Ofenrohr! Und darauf haben sie sich aus Grieß, Zwiebeln und, so sie hatten, etwas Fett in zerbeulten Töpfen die sogenannte ›falsche Leberwurst‹ gemacht! Die haben sie dann auf Soja- oder auf Maisbrot gepappt! Heute? Schauen Sie sich die anderen Großen im Land an! In zehn Jahren haben wir vierhundertfünfzig Millionen Tonnen Beton verbaut! Das würde ausreichen, eine zwei Meter hohe Mauer zweimal rund um die Erde zu ziehen! Jedermann braucht heute sein Eigenheim! Seinen Grill im Garten! Sein Auto – aber immer das neueste und teuerste!«
Jakob sah Schreiber unfreundlich an.
»Und was ist da falsch dran?«
»Daran ist noch gar nichts falsch, Chef! Aber bei uns ist die alte Volkskrankheit wieder ausgebrochen: Wir sind maßlos geworden!«
»Nun übertreiben Sie aber, Schreiber!«
»Übertreiben? Ich untertreibe, Chef! In keinem Land der Welt – außerhalb der USA und Kanadas – wird heute kürzer gearbeitet! 1952 noch achtundvierzig Stunden in der Woche! Jetzt blasen die Gewerkschaften bereits zum Sturm auf die Fünfunddreißig-Stunden-Arbeitswoche!«
»Wirklich, Schreiber, nüchtern sind Sie kaum zu ertragen!«
»Mir hat’s in diesem Land besoffen auch besser gefallen, Chef! Aber ich habe einfach aufhören müssen! Und da sehe ich jetzt zu meinem Kummer: Wir sind zu frech, wir sind zu fett, wir sind zu unverschämt geworden! Und das hat Folgen! Die Aktienkurse sinken bereits! Unser Außenhandel saust runter, daß es eine wahre Pracht ist! Stahl- und Bauwirtschaft gelten nicht mehr als impulsgebende Industrien!«
»Schreiber, jetzt hören Sie aber endlich auf, alles mies zu machen! Es geht uns so blendend wie nie zuvor«, sagte Jakob streng.
»Noch, Chef, noch! Noch haben wir genügend Gold- und Devisenreserven! Noch kommen wir mit denen auch durch eine große und lange Flaute! Nur zu lange darf die nicht dauern!«
Jakob war plötzlich nachdenklich geworden.
»Na ja«, sagte er, »das ist natürlich alles wahnsinnig übertrieben, was Sie da von sich gegeben haben, Schreiber, aber ein bißchen zu wild fahren tun wir schon. Ich muß mich auf einige große Projekte konzentrieren. Ich darf mich nicht zersplittern. Sie haben recht: Ich muß OKAY verkaufen, solange die Auflage noch so hoch ist und ich am meisten bekomme. Aber was machen Sie dann? Ich meine – entschuldigen Sie –, von Ihren Büchern können Sie doch immer noch nicht leben!«
Der Ex-Trunkenbold stand auf und blickte Jakob tragisch an.
»Was ist jetzt los?« fragte Jakob. »Was soll der tragische Blick?«
»Es bricht mir fast mein gottverdammtes Herz, Chef, aber wir haben Ihnen noch etwas zu sagen.«
»Wir? Was heißt ›wir‹?«
»Ich bin nicht allein gekommen. Ich bin zu zweit gekommen. Aber ich habe zuerst mit Ihnen allein reden wollen, um zu sehen, ob Sie auch in der Verfassung sind …«
»In was für einer Verfassung?«
»In einer genügend guten …« Schreiber war plötzlich verlegen.
»Ich bin in einer genügend guten Verfassung!« Der alte Jakob war wieder da. »Mit Ihrem blöden Witz haben Sie mir tatsächlich geholfen!«
»Sie haben keine Schuldgefühle mehr?«
»Nicht die geringsten! Morgen haue ich hier ab! Und verkitsche die OKAY! Nun sagen Sie mir schon, was Sie mir zu sagen haben! Es wird mich nicht umhauen! Holen Sie den zweiten Mann rein, mit dem Sie gekommen sind – wer immer es ist!«
Klaus Mario Schreiber nickte, ging zur Tür, öffnete sie und machte jemandem, der auf dem Gang draußen stand, ein Zeichen, einzutreten. Der zweite Mann trat ein und blieb bei der Tür stehen. Es war nur kein Mann.
Es war eine Frau. Und das haute unsern Jakob doch fast um. Ein Glück, daß er schon im Bett lag!
»Guten Tag, lieber Jakob«, sagte die blonde Claudia Contessa della Cattacasa.
43
»O hallo, Claudia«, sagte Jakob, charmant lächelnd. »Das ist aber eine freudige Überraschung!«
»Hoffentlich.«
»Hoffentlich was?«
»Hoffentlich wird’s auch eine freudige Überraschung bleiben.«
»Da bin ich ganz sicher, mein liebes Kind! Großartig siehst du aus!«
»Hör mal, Jakob, ich muß dich was fragen.«
»Immer jünger wirst du, mein liebes Kind«, lärmte Jakob.
»Ich muß dich fragen, ob du dich noch an unser Gespräch in deiner Villa auf Cap d’Antibes« – CHÂTEAU NATASCHA brachte Claudia einfach nicht über die Lippen – »erinnerst.«
»Jakob Formann erinnert sich an jedes Gespräch. Welches meinst du, liebes Kind?« forschte er, während Schreiber sich dezent in den Hintergrund zurückzog.
»Ich meine das Gespräch, bei dem du dich so bedankt hast für meine ganze Mühe beim Bau der Villa. Vor dem Fest. Als wir von dem Violetten gesprochen haben.«
»Natürlich erinnert Jakob Formann sich an dieses Gespräch, mein liebes Kind. Möchtest du, daß ich mich an das ganze erinnere oder nur an eine bestimmte Stelle?«
»Nur an eine bestimmte Stelle«, sagte die Contessa. Sie schob das Kinn vor.
»Du hast mich in deiner Dankbarkeit gefragt, ob ich einen Wunsch habe, den du mir erfüllen wolltest, und ich habe dir gesagt, ich würde schon noch einmal einen Wunsch haben. Erinnerst du dich?«
»Jakob Formann erinnert sich, liebes Kind.«
»Dann ist es gut. Jetzt hätte ich nämlich einen Wunsch.«
»Aha. Und welchen?«
»Von dir Abschied zu nehmen und fortzugehen.«
»Aha.«
»Und fortzugehen mit Klaus.«
»Mit wem?«
»Mit dem da!«
»Ach so, mit dem Schreiber. Warum sagst du das denn nicht gleich?«
»Ich sage es dir ja gleich, Jakob. Klaus und ich gehen jetzt fort. Zusammen. Für immer. Wir lieben uns, wenn du den Ausdruck verzeihst«, sagte Claudia. So etwas wie eine kleine Stunde der Rache war gekommen. Sie fuhr fort: »Du hast ja deine geliebte Natascha. Du bist nicht allein und verlassen. Darum sei uns nicht böse, wenn wir jetzt gehen. Das ist mein Wunsch, da hast du ihn.«
Donnerwetter, dachte Jakob verblüfft. Vor etwa einem Jahr, in Rostow, am stillen Don, hat mir BAMBI gesagt, daß sie den Jurij Blaschenko liebt und in der Heimat aller Werktätigen bleiben und den Jurij heiraten will, weil sie ihn so liebt und er sie, und da habe ich gedacht: Also eine bin ich los. Hoffentlich wird das mit der anderen auch so glatt gehen. Herrschaften, glatter kann es nun aber wirklich nicht gehen! Trotzdem darf ich jetzt nicht beispielsweise zu jodeln beginnen. Sei ernst, Jakob, seriös und feierlich! Seriös, feierlich und ernst sagte Jakob: »Ja, wenn das euer Wunsch ist, dann muß ich ihn natürlich respektieren.«
Claudia schluckte schwer.
»Was hast du denn noch, Claudia?« forschte er.
»Weil du ein so großartiger Mann bist, Jakob«, sagte die Contessa della Cattacasa bewegt. »Weil du sofort den Weg freigibst für eine wunderbare Liebe, wie sie Mario und mich verbindet.«