Er hatte Geduld, weil er gerade soviel zu tun hatte. 1961 – da wurde die Mauer in Berlin gebaut. Damals hatte Jakob Formann, seiner Zeit immer um zwei Schritte voraus, aus seinen vielen Schiffen durch Hinzunahme von Charter-Flugzeugen und Charter-Eisenbahnzügen und Omnibussen ein internationales Mammut-Reiseunternehmen aufgebaut, dieses gekoppelt mit einem gigantischen Möbelversandhaus, das Pleite gemacht und das er blitzschnell günstigst erworben hatte, um daran noch eine Immobilienfirma zu hängen. Den Werbe-Slogan für das Unternehmen hatte er sich selber ausgedacht und war mächtig stolz darauf. Er lautete: SCHÖNER WOHNEN – SCHÖNER REISEN – SCHÖNER LEBEN! Blödsinniger ging’s kaum noch, und deshalb zog dieser Slogan wie ein Magnet!
Des weiteren besaß Jakob – in der Phase der größten Expansion – bereits ein Anlageberatungsbüro (mit zahlreichen Außenstellen) für Abschreibungsprojekte in Zonenrandgebieten und West-Berlin. Er sah einfach alles voraus.
Und was er voraussah, traf ein. Ende 1964 traten die Amerikaner fast schon offen an der Seite Südvietnams in den Krieg gegen Nordvietnam. Jakobs Fertighausfabriken in Deutschland arbeiteten rund um die Uhr. Er selber flog dauernd zwischen Deutschland und Amerika hin und her. Immer wieder traf er seinen alten Freund, den Senator Robert Jackson Connelly. (Die liebe Jill hatte geheiratet und bereits einen kleinen Sohn.) Connelly war ziemlich traurig. Cindy, seine entsetzliche, wahrhaft der Hölle entsprungene Gemahlin, hatte ihm einen Drachen von neuer Sekretärin ins Vorzimmer gesetzt.
Jakob flog (mit Natascha) nun auch oft nach Los Angeles, um Misaras zu besuchen und mit diesem den Bau neuer Werke in Südamerika und Mexiko zu besprechen. Am 5. November 1964 wurde er mitten in einer solchen Besprechung aus Washington angerufen. Sein Freund, der Senator, war am Apparat. Seine Stimme klang unglücklich und aufgeregt: »Jake, tut mir leid, daß ich dich stören muß, aber da ist was sehr Unangenehmes passiert …« Nach all der Zeit duzten sie sich.
»Was denn, Bob?« fragte Jakob milde.
»Du lieferst doch jetzt auch Fertighäuser für Truppenunterkünfte nach Südvietnam, von Bremerhaven aus, nicht wahr …«
»Ja!«
»… und zwar sehr große Mengen, nicht wahr?«
»Ja doch! Und?«
»Und ich bin gerade vom Pentagon angerufen worden, Jake. Du kannst natürlich nichts dafür, aber mit deinen Fertighäusern für Südvietnam, mit diesen Truppenunterkünften, die das Pentagon jetzt bei dir bestellt hat, ist eine Sauerei passiert.«
»Was für eine Sauerei?«
»Reg dich nicht auf, Jake! Alles ging glatt, sagen sie im Pentagon, alles ging prima, aber jetzt sind die Ladungen von drei Schiffen verschwunden.«
»Was sind sie?«
»Verschwunden! Geklaut! Von irgendwelchen Lumpen. Unsere Leute kommen nicht dahinter. Die da unten klauen alle wie die Raben. Aber du hast den Auftrag und die Häuser bezahlt gekriegt, und jetzt sind sie nicht mehr da, und deshalb …«
»Schon gut, schon gut, Bob«, sagte Jakob, die Augen schließend, »ich weiß, was du mir sagen sollst.«
»Du weißt, Jake?«
»Ja. Du sollst mir vom Pentagon sagen, daß ich meinen Arsch gefälligst ins nächste Flugzeug zu setzen und nach Saigon zu fliegen habe, weil ich für die Häuser verantwortlich bin und jetzt versuchen muß, sie wiederzufinden.«
»Wie konntest du das bloß ahnen, Jake?« Der Senator war fassungslos.
»Reine Sache der Intuition. Außerdem ist Jakob Formann auch den Gedanken anderer Leute immer um zwei Schritte voraus. Okay, okay, ich fliege in zwei Stunden los, mein Alter!« sagte Jakob und dachte, während er den Hörer niederlegte: Hübsch, hübsch, jetzt kann ich für die Amis da unten, wo es schießt, auch noch Detektiv spielen und rauskriegen, wer sich meine Häuser unter den Nagel gerissen hat!
Natascha und Misaras vernahmen voller Gram, was sich ereignet hatte. »Na ja«, sagte Jakob, »was soll man machen? Pack deine Sachen, Schatz!« Zu seiner Überraschung wollte Natascha ihre Sachen nicht packen.
»Aber warum nicht, Liebste? Du fliegst doch sonst immer mit mir überallhin! Warum nicht diesmal?«
»Mein Gott, Jake, ich würde ja so gerne mit dir fliegen, aber gerade jetzt, morgen, beginnt hier in Los Angeles dieses große Festival.«
»Was für ein Festival?«
»Das Mozart-Festival, Liebster. Mit den berühmtesten Sängern und Solisten!« erwiderte Natascha. »Es dauert zwei Wochen. Im Music Center of Los Angeles. Konzerte und Opern und alles – und, bitte sieh das ein: Meinen Mozart lasse ich mir nicht nehmen!«
46
Einskommafünf Millionen Menschen lebten zu diesem Zeitpunkt in Saigon, der Hauptstadt von Südvietnam, am rechten Ufer des Saigon-Flusses. Obwohl achtzig Kilometer vom Meer entfernt, besaß die Stadt einen Seehafen und war Standort großer Industrien. Am Flußufer befand sich das Geschäftsviertel, auf Schwemmlandterrassen lag das Regierungsviertel. Da ein öffentliches Verkehrsnetz in der Stadt fehlte, waren mehrere hunderttausend Motorroller in Betrieb.
Das alles und noch viel mehr wußte Jakob Formann bereits, noch bevor er einen Fuß auf vietnamesische Erde gesetzt hatte.
Nach Saigon flog er – wozu die guten Stücke gefährden? – einmal nicht mit einer seiner eigenen Maschinen, sondern mit einem Transporter der amerikanischen Luftwaffe. In diesem saß ein außerordentlich geschwätziger Oberst neben ihm, der stolz war auf seine intime Kenntnis Vietnams. Außerdem gab es noch einen Reiseführer … Jakobs Transporter landete auf dem Flugplatz von Than Son Nhut. Er fand es nicht gemütlich hier. Massenhaft waren da Düsenjäger geparkt, Hubschrauber mit Bordkanonen, Tieflader mit Napalm-Bomben. Alle Soldaten hatten traurige Gesichter. (Die armen Schweine, dachte Jakob, in Erinnerung an eigenes Erleben versunken.) Auf der Straße, die in die Stadt führte, gab es immer wieder Stacheldrahtsperren, Sandsackbarrikaden und Wachttürme. Auf ihnen sah Jakob Soldaten, Gewehr im Anschlag. Nein, dachte er, wir Menschen haben nichts dazugelernt seit 1945. Wahrscheinlich sind wir unbelehrbar.
In der City rasten Jeeps mit schwerbewaffneten Soldaten umher, LKWs mit kleinen Kanonen. Lastzüge voll Munitionskästen. Dazwischen glitten leichte Rikschas, eilten Wasserverkäuferinnen, die ihre Ware wie auf Waagschalen an einer Bambusstange hielten, fuhren Motorräder und Fahrräder, Taxis und Motorroller. Es war ein Chaos ohnegleichen.
Soldaten sah Jakob, Zivilisten, buddhistische Mönche, zierliche kleine Frauen mit langen Gewändern, langgeschlitzten Röcken und aufgestecktem Haar, schmutzige Kinder, die auf der Erde hockten, einen Holzblock vor sich, und Soldaten, Amerikanern und Vietnamesen sowie vornehm gekleideten Herren aus Europa die Schuhe putzten. Das alles sah Jakob … Er hatte draußen am Flughafen ein Taxi erobert. Sein Freund, der Senator, war der Ansicht gewesen, Jakob solle im Hotel METROPOL wohnen. Also hatte Jakob dort ein Zimmer bestellt. Nach dem langen Flug wollte er erst einmal baden und schlafen, bevor er sich auf die Suche nach den verschwundenen Fertighäusern machte.
Das Taxi erreichte das Hotel. Kinder prügelten sich darum, Jakobs Koffer tragen zu dürfen. Er bezahlte den Fahrer und drehte sich dann um, in der Absicht, das Hotel zu betreten. Dabei stieß er heftig mit einem amerikanischen Offizier zusammen, der aus dem Hotel herauskam.
»Entschuldigen Sie, Lieutenant-Colonel«, sagte Jakob höflich.
Der Lieutenant-Colonel stierte ihn mit hervorquellenden Augen an, rang nach Luft und stammelte: »Gott der Gerechte, Jake, alter Junge, was machst denn du hier?«
»Mojshe …«, stammelte Jakob fassungslos. Vor ihm stand – ein Irrtum war unmöglich! – tatsächlich jener Mojshe Faynberg, ehemals bei der Military Police in Wien und sodann beim Fliegerhorst Hörsching nahe Linz, Austria – der Gefreite, der damals so dick und rothaarig gewesen war, jener Sohn eines armen jüdischen Flickschusters aus New York Bronx. Dieser Sohn war noch immer dick, aber sein rotes Haar leuchtete graumeliert (was sehr merkwürdig aussah), und er war nicht mehr Gefreiter, sondern wirklich und wahrhaftig – Jakob kannte schließlich die Uniform noch – ein Lieutenant-Colonel!