»Auf!« schrie der General wie rasend. »Ich habe ›Auf‹ befohlen!«
Danach begannen plötzlich alle durcheinanderzuschreien.
»Du Arschloch, du verstunkenes, du kannst uns mal! General und noch nie eine Rakete gehört!«
»Klar hat er nicht! Die feige Ratte hat doch während des ganzen Korea-Kriegs nichts als Truppenbetreuung gemacht!«
»Und dann mußte er mit einem Trio ins Lazarett! Ich könnte schwören, er hat gewußt, daß das Mädchen nicht sauber war, als er ihn reinsteckte! Bloß damit er nicht an die Front mußte!«
»Aber sein Bruder ist Vizepräsident bei der … na, jetzt fällt mir der Name nicht ein … bei dieser Firma, die Napalm erzeugt! Dem sein Geld sollten wir haben, Boys!«
»Verdammt, verdammt, verdammt«, flüsterte Mojshe erschrocken. »So geht das aber auch nicht. Die haben da etwas mißverstanden, die Jungs.«
»Was haben sie mißverstanden?«
»Die glauben, sie sind noch im ›Encounter‹-Training, die Trottel, und sie sollen dem armen General alles sagen, was sie über ihn denken. Der Schock … man kann es ja verstehen. Aber dabei ist das hier schon die höchste Gruppe – nämlich die Erziehung zum Getragenwerden durch die Gemeinschaft.«
»Die hat ihn ja auch fein getragen«, sagte unser Freund, während nebenan der General und neun andere Herren sich heiserschrien.
An diesem Abend fuhr Jakob mit Mojshe im Jeep hinunter zum Hafen. Die drei Schiffe waren über Nacht wie durch ein Wunder wieder mit Fertighausteilen gefüllt worden.
»Zufrieden?« fragte Mojshe. »Dieser alte Ganeff, der San-Tui.«
»Warum sperrt ihr ihn nicht überhaupt ein?« fragte Jakob. »Der Kerl verdient’s doch wahrhaftig!«
»Ach Mensch, wenn wir hier alle einsperren wollten, die es verdienen … Außerdem, du hast es ja gehört, versorgt er uns zuverlässig mit Nachrichten über bevorstehende Aktionen des Vietcong.«
»Über die Rakete heute vormittag hat er euch aber nicht rechtzeitig informiert!«
»Ein Mann kann nicht alles wissen«, sagte Mojshe. »Du siehst ja, wie es hier drunter und drüber geht. Komm, erholen wir uns ein bißchen in deinem Hotel!«
Mojshe trank Bourbon, Jakob Tonic Water, sie redeten von längst Vergangenem und von hautnaher Gegenwart. Plötzlich sagte Jakob: »Du, Mojshe, ich hab eine Idee.«
»Soso.«
»Paß auf. Das hat tiefen Eindruck auf mich gemacht, was du mir da gezeigt hast, diese ›T-Gruppen‹. Ich war in den Staaten selber mal bei einem Püschoanalytiker. Das ganze Volk ist doch meschugge mit Püschoanalytikern und all dem Zeug. Willst du ein paar solche Institute wie das hier mit ›Encounter‹- und ›Sensibility‹-Training und dem ganzen Zeug in Amerika auf privater Basis eröffnen? Geld schieße ich vor. Du mußt für das Know-how und ein paar Püschater sorgen. Ich schwöre dir, da kommt Geld rein wie Scheiße in die Latrine!«
»Das brauchst du mir nicht zu schwören. Jake, das glaube ich dir unbesehen. Eine prima Idee. Machen wir, klar!«
»Hm …« Jakob war noch etwas eingefallen. »Hör mal, Mojshe. 1965 feiere ich meinen fünfundvierzigsten Geburtstag.«
»Ja, und?«
»Und meine Freundin, diese Natascha, ich habe dir von ihr erzählt …«
»Stundenlang«, seufzte Mojshe. »Was ist mit deiner Natascha?«
»Die will meinen fünfundvierzigsten Geburtstag ganz besonders festlich begehen! Die liebt mich so sehr, verstehst du!«
»Aha.«
»Ja, es ist nicht zum Beschreiben! Eine wunderbare Frau! Weißt du, was sie sich ausgedacht hat?«
»Was?«
»Wir feiern meinen Geburtstag auf dem Wiener Opernball! Der ist in der Nacht vor meinem Geburtstag! Toll, was?«
»Toll. War denn deine Natascha schon mal auf einem Opernball?«
»Nein.«
»Aha.«
»Was heißt aha? Ich war auch noch auf keinem! Natascha meint, ich soll ein paar Logen nehmen, damit ich meine besten Freunde und engsten Mitarbeiter einladen kann! Also, das gäbe eine Riesenhetz, Mojshe! Früher waren wir arme Schweine. Jetzt, jetzt sind wir alle wer und können die feinen Maxen machen!«
»Können wir, ja.«
»Würdest du kommen? Bitte, Mojshe! George Misaras kommt auch bestimmt!«
»Na, glaubst du, da bleib’ ich weg?« fragte Mojshe, fast beleidigt. »Wo wir doch so alte Freunde sind! Klar gehen wir alle zusammen mit dir 1965, zu deinem fünfundvierzigsten Geburtstag, auf den Wiener Opernball!«
50
Und so geschah’s.
Sie alle, alle kamen. Und Jakob erhielt das ›Große Silberne Ehrenzeichen am Band für Verdienste um die Republik Österreich‹ und wurde von Bundeskanzler Josef Klaus (schwarz, ÖVP, aber ein ganz reizender Mensch!) auf beide Wangen geküßt, und alle beglückwünschten ihn, und alle umarmten ihn, und alle tranken zuviel, und nachts fuhr Jakob dann mit seinem Rolls-Royce noch los, weil er unbedingt anderntags in München eine wichtige Besprechung hatte, und auf der Autobahnbrücke über die Mangfall, da bei Weyarn, geriet sein Wagen auf der eisigen Bahn ins Schleudern, durchbrach das Geländer, stürzte in die Tiefe und explodierte dort, Jakob aber flog in das Geäst eines Baumes und hing da und versuchte verzweifelt, von diesem Baum wieder herunterzukriechen und dabei nicht auch in die Tiefe zu stürzen …
Tja, und da steht er nun.
Da steht er nun, glücklich aus dem Geäst des vereisten Baumes heruntergeklettert auf die vereiste Autobahnbrücke über die Mangfall, und es ist gräßlich kalt, und ein stürmischer Wind heult, und Jakob Formanns Frack ist ganz und gar verdreckt, und die stolz gestärkte Hemdbrust sieht aus wie aus dem … Kakao gezogen, und er selber – du liebes Gottchen! Verschrammt, verdreckt, bleich das Gesicht, wirr und naß das Haar. Die Fliege ist weg. Weg ist auch das ›Große Silberne Ehrenzeichen am Band für Verdienste um die Republik Österreich‹. Beides ist in die Schlucht hinuntergeflogen, als Jakob noch im Baume hing. 7 Uhr 15 ist es nun am 26. Februar 1965, und Jakob feiert heute seinen fünfundvierzigsten Geburtstag. So kann man also seinen Geburtstag auch feiern!
Da steht er nun, dem Tode eben noch von dessen Schäufelchen gesprungen, am ganzen Leibe zitternd vor Schrecken, und kann sich kaum aufrecht halten, kann kaum richtig atmen, dieser Jakob Formann, dieser Multimillionär, dieser Herr eines weltweiten Wirtschaftsimperiums, dieser Träger hoher und höchster Orden und Ehrenzeichen, dieser Freund hoher und höchster Herrschaften in West wie in Ost, dieser Liebhaber vieler schöner Frauen, da steht er nun …
Nein, da sitzt er nun. Er ist einfach zusammengesackt, die Beine, sie trugen ihn nimmer.
Tiefe Winternacht ist es noch, unnötig zu sagen, aber wir sagen es trotzdem. Die Autobahn verlassen. Kein einziges Auto weit und breit. Verflucht, dachte Jakob, stehen kann ich nicht mehr, aber sitzen darf ich auch nicht zu lange, sonst klebe ich am Eis an. Der Tod durch Erfrieren scheint mir gewiß. Happy birthday! Na, wenigstens ziehe ich keinen anderen Menschen mit in das Malheur! Alle schlafen süß in ihren weichen, warmen Betten im schönen Hotel IMPERIAL, alle meine Freunde: der Wenzel Prill, der Karl Jaschke mit seiner Frau, George Misaras mit seiner Frau, Mojshe Faynberg (Herrgott, drei solche Idioteninstitute hat der in der Zwischenzeit in Amerika eröffnet, das Geschäft geht wie verrückt!), der gute alte Senator Connelly schläft im IMPERIAL, den habe ich allein rüberholen lassen, und die liebe BAMBI mit dem lieben Jurij Blaschenko, ihrem Mann, der wackere Oberst Assimow, der Plastic-Experte Dr. Addams Jones, und so weiter und so weiter, Millionäre, Künstler, die GANZ GROSSEN dieser Welt halt, ein paar von meinen Freunden halt, was so in drei Logen reingegangen ist halt. Und natürlich meine geliebte Natascha! Claudia und der versoffene Schreiber, der, wie ich höre, tatsächlich keinen einzigen Tropfen mehr trinkt, sind nicht gekommen. Sie haben angerufen und sich entschuldigt. So lieb! So rührend!