»Wir können unter keinen Umständen aus Monte Carlo weg, lieber Jakob«, hat Claudia gesagt. »Bitte, sei nicht böse und sieh es ein. Der Mario muß Ende Februar mit seinem neuen Roman fertig sein, er arbeitet wie ein Irrer von früh bis abends, damit er es schafft.«
»Klar«, habe ich gesagt. »Arbeit geht vor. Hat er schon einen Namen, der neue Roman?«
»ALLE MENSCHEN WERDEN BLÖDER.«
»Na«, habe ich gesagt, »da hat er aber ja recht, der Mario! Hoffentlich wird das Buch wieder so ein Erfolg wie das letzte, toi, toi, toi.« Und ich habe auf Holz geklopft und gehört, wie die süße Claudia auch auf irgend etwas aus Holz da in Monte Carlo geklopft hat. Der Schreiber, der hat nämlich mit seinem letzten Buch – Gott, steht eine bezaubernde Widmung in dem Band, den er mir geschenkt hat! – einen Bestseller geschrieben. Über die Mauer in Berlin und die ganze Scheiße mit dem zweigeteilten Deutschland, das keiner wiedervereinigen will, weil sie sich alle fürchten vor einem wiedervereinigten Deutschland, man kann’s ja verstehen. Sogar gelesen habe ich diesen Roman!
SCHLAFE, LIEB VATERLAND, SCHLAF EIN hat er geheißen. Hat mir sehr gut gefallen. Nur so säuisch sollte der Schreiber nicht schreiben. Ich weiß ja, ich weiß ja, den Leuten gefällt’s. Den meisten jedenfalls. Und ›in‹ ist so was auch. Aber hat er das nötig? Im übrigen ist da etwas sehr Komisches passiert: Seine ersten sieben Bücher haben sich schlecht verkauft, aber die Kritiker in Deutschland haben wahre Hymnen über sie angestimmt. Jetzt gehen seine Bücher, was heißt gehen? – sie verkaufen sich rasend, und die Kritiker in Deutschland zerreißen den Mario Schreiber in der Luft. Wie es eben so geht im menschlichen Leben, würde der Arnusch Franzl sagen, der elende Schuft. Den habe ich natürlich nicht zum Opernball eingeladen, den Scheißkerl! Den habe ich doch rausgeschmissen wegen seiner Steuerschweinereien, die er hinter meinem Rücken gemacht hat. Seitdem höre ich nichts mehr von ihm. Und so einem habe ich noch eine Bank in Wien finanziert – ich bin schon ein großer Trottel! Vielleicht sollte ich jetzt doch ein bißchen aufstehen, bevor mir der Hintern endgültig anfriert. Es kommt schon so grauenhaft kalt von da unten herauf, bis ins Hirn …
Jakob versuchte sich zu erheben.
Es ging nicht.
Er war bereits angefroren. Und er hatte nicht mehr die Kraft, sich loszueisen. Mit idiotischem Gesichtsausdruck saß er da. Na, schön. Wenn der Herrgott nicht will, nützt das gar nichts. Dann ist es mir also bestimmt, zu sterben. In meiner Jugendmaienblüte. Am 26. Februar 1965. Auf der Brücke über die Mangfall. An meinem fünfundvierzigsten Geburtstag noch dazu.
Der Tod durch Erfrieren soll ja ein sehr gnädiger Tod sein, habe ich gehört. Man wird immer schläfriger und schläfriger, und dann ist man hinüber. Ach, Natascha, nun werde ich dir die Chinesische Schlittenfahrt doch nicht mehr verpassen können! Das ist schon traurig. Besonders wenn man bedenkt, was ich bereits in dich investiert habe. Und wenn man weiter bedenkt, daß ich dich auch schon zu erwecken angefangen habe. Beim letzten Mal vor drei Wochen, da hast du schon Geräusche von dir gegeben! Und was für welche! Dreimal hintereinander hast du geniest. Na ja, wir sind eben alle in Gottes Hand.
Jakob zuckte zusammen.
Was habe ich da gedacht?
Wir sind alle in Gottes Hand?
Steht es so arg um mich? Na ja, jetzt bin ich wenigstens sicher: Das ist also das Ende …
Er ließ sich sanft seitwärts gleiten. Seine Gedanken wurden leichter und leichter. Wie war das Gedicht, eh, der Gesang, den mir Natascha auf Cap d’Antibes vorgesprochen hat, von diesem Danton? Quatsch, Danton! Danton, das ist der mit den hochgezwirbelten Schnurrbartspitzen, der diese Pfannkuchenuhren malt. Nein, Dante heißt der Kerl! Und meine geliebte Natascha hat mir vorgesprochen – rezitiert heißt das –, was dieser Darwin da geschrieben hat …
Gerade in der Mitte meiner Lebensreise
Befand ich mich in einem dunklen Walde,
Weil ich den rechten Weg verloren …
Aus.
Schluß.
Jakob war mitten in der Erinnerung an diesen Gesang friedlich eingeschlafen. Schnee stäubte ihn zu …
51
»Herifi son anda bulduk!«
»Lânet olsun! Arkasi donmaÿa başlamiş bile.«
»Herifin kimin nesi oldogunu da bilmiyoruz.«
Einen Moment mal, ja?
Ein ganz kleines Momentchen, bitteschön!
Wer spricht denn hier Türkisch?
Ich kann selber nicht Türkisch, aber ich war oft genug in der Türkei wegen diesem Plastikwerk, das ich denen da hingebaut habe, um zu wissen, wie Türkisch klingt. Für diese Sprache habe ich überhaupt einen gut entwickelten Sinn!
Aber wieso Türkisch?
»Inşallah yolda geberip gitmez!«
Keine Ahnung, was es bedeutet, aber Türkisch ist es, da will ich verrecken, wenn nicht.
Verrecken?
Vielleicht bin ich schon verreckt! Sehr wahrscheinlich. Auf der Brücke über die Mangfall. Erfroren. Im Himmel.
Sprechen sie im Himmel Türkisch?
Ach, Mensch, ich und in den Himmel kommen!
Sprechen sie also in der Hölle Türkisch?
Und wieso ruckelt und wackelt alles so unter mir? Ruckelt’s und wackelt’s so in einer türkischen Hölle? Das muß ich mir mal besehen, wie so eine Hölle, eine türkische, ausschaut!
Jakob öffnete die Augen.
Er fand, daß er auf dem Rücksitz eines sehr alten, sehr dreckigen Autos lag, das vollgestopft war mit Gepäckstücken – mit Koffern, Persilkartons, Taschen. Jakob hob etwas den Kopf. Er befand sich, so stellte er fest, in einem ziemlich kaputten Auto. Die Stoßdämpfer waren jedenfalls im … na ja. Nicht immer so ordinär sein wie dieser Schreiber! dachte Jakob.
Über ihm krachte etwas. Da sind auch noch Koffer auf dem Dach, überlegte er. Und sah nach vorne. Vorne saßen zwei Herren in desolater Winterkleidung. Der eine hatte einen Schal um den Kopf gewickelt, der andere rauchte eine Zigarette. Gott, was für ein Gestank! Ach was, erstunken ist noch keiner, erfroren schon so mancher. Jakobs benebeltes Hirn begann besser und besser zu arbeiten.
Die zwei Herren da vorne reden miteinander. Türkisch! Werden also wohl Türken sein. Türken in Bayern? Ach so, Gastarbeiter! Die kommen offenbar gerade aus der Heimat zurück, wenn man sich die Koffer und Kartons anschaut, in denen wohl ihre Kleidung verpackt ist. Die Weihnachtszeit haben sie daheim verbracht und alles Geld, das sie in der Bundesrepublik erschuftet haben, ihren Familien gegeben, die guten Kerle, und dann vermutlich noch Urlaub drangehängt, und jetzt fahren sie zurück, wieder schuften.
Also bin ich gar nicht tot!
Jakob wurde es heiß.
Also lebe ich noch, hurra!
Sein Herz klopfte wild.
»He …«, krächzte er.
Der Türke, der rechts saß, drehte sich um und sah ihn an. Noch nie hat mich ein Mensch so liebevoll betrachtet, dachte Jakob, dem die Tränen kamen.
»Okay?« fragte der Türke.
»Okay, ja. Ganz okay! Sie haben mich aufgelesen da auf der Brücke, meine Herren?«
»Nix verstehn.«
»Brücke. Ich. Ihr Auto.« Jakob sprach automatisch wie ein Mann, der nur ein paar Worte Deutsch kann. Er war der Überzeugung, daß ihn die Türken so viel besser verstehen könnten.
»Ja, ja. Du gut. Wir …« Es folgte eine Flut türkischer Erklärungen.
Jakob verstand kein Wort. »Aha«, sagte er. Und noch einmaclass="underline" »Aha.« Er klopfte den beiden Türken auf die Schultern. »Danke! Danke! Danke!«
»Was?«
»Danke! Thank you! Merci! Spassibo! Grazie …« Was heißt ›danke‹ auf türkisch? Der Mensch kann nicht alles wissen.
Der Wagen schleuderte und schlidderte auf der vereisten Autobahn, daß es eine Lust war. Der Türke am Steuer hielt eisern den Fuß auf dem Gashebel. Jakob sah auf das Armaturenbrett. Fünfundneunzig Stundenkilometer. Gelobt sei Jesus Christus! Und was ist das da? Eine Uhr ist das da. Und was zeigt die Uhr? Die Uhr zeigt die Zeit: 8 Uhr 58. Fast neun. Es ist schon hell draußen! Und es schneit wie verrückt. Fast neun. Nie im Leben komme ich mehr zu meiner Aufsichtsratssitzung zurecht! Die habe ich selber angesetzt. In meiner Münchner Fertighausfabrik, der ganz großen, da draußen in Solln. Wichtige Dinge sind mit den Direktoren meiner ausländischen und überseeischen Niederlassungen zu besprechen. Den Jaschke brauche ich nicht dazu. Darum habe ich ihn ja auch im IMPERIAL schlafen lassen. Eigentlich sollte er natürlich doch dabeisein. Aber ich hab’s nicht über mich gebracht, ihn zu wecken. Ich kann ihn sehr gut vertreten.