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Die Israelis waren erbittert. Die Araber auch. Die Araber besannen sich darauf, daß sie im Besitz einer Waffe waren, die sie zwar niemals zuvor noch aggressiv eingesetzt hatten, mit der sie aber die Weltwirtschaft ruinieren konnten.

Diese furchtbare Waffe hieß Öl.

Die arabischen Staaten erklärten, ihre Öllieferungen einschränken oder gar ganz einstellen zu wollen. Sie hielten Wort. Der Schock war weltweit. Die Folgen waren unabsehbar …

Herr Daghely, Libyens Botschafter in Bonn, gab dem deutschen Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL ein Interview. Er sagte:

DAGHELY: Die ganze Welt soll unser Problem fühlen. So viel wie wir im Nahen Osten verfeuert haben, sollen Sie hier frieren. Sie müssen Israel klar sagen, daß es unseren Boden verlassen soll.

SPIEGEL: Das ist eine Erpressung.

DAGHELY: Wenn Sie so fühlen, ist es Ihre Sache. Ich habe nicht dieses Gefühl.

SPIEGEL: Sie wollen uns also mit dem Versorgungsdruck zu einer ganz bestimmten politischen Haltung zwingen.

DAGHELY: Da es dem Frieden dient, ist es keine Erpressung …

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Nein, dann ist es keine Erpressung, dachte Jakob, der, während er (falsch) sang, auch (richtig) denken konnte, nun also am Sonntag, dem 25. November 1973, in der schönen kleinen Kirche von Hammering bei Passau (Niederbayern), weil ihm gerade eingefallen war, warum er hier stand und ›Ja, mir san mit’m Radl da!‹ röhrte. Wenn da einer kommt und sagt, daß es dem Frieden dient, dann hat es in der Geschichte bisher schon immer eine Riesensauerei gegeben. Großer Gott, wie hat der Hitler dem Frieden dienen wollen.

Ach, lieber nicht dran denken …

»… ja, mir san mit’m Radl da …« Nun dröhnte der Gesang der Gläubigen schon so, daß die wunderschön bunten Kirchenfenster klirrten. Den Sangesfrohen schoß der Atem in Form weißer Wölkchen aus den Mündern. Das kam, weil es so hundsgemein kalt war.

Der Hochwürdige Herr Dussl war ein sehr kluger Mann. Natürlich durfte er nicht zulassen, daß in seiner Kirche gewöhnliche Schlager gesungen wurden. ›Ja, mir san mit’m Radl da‹ indessen ist, insbesondere dem Rhythmus und der Melodie nach, alles andere als ein gewöhnlicher Schlager. Rhythmus und Melodie sind exakt die der ›negro Spirituals‹, jener innig bewegt frommen Lieder, welche die Schwarzen in den Südstaaten der USA singen. Und also durchaus für eine Kirche zulässig, was Hochwürden Dussl auch bestätigt worden war von höchster Geistlicher Stelle. Man stelle sich das nur einmal vor: Ohne Hochwürden Dussls Angebot wäre an diesem bitterkalten Sonntag ganz gewiß kein einziges Schäflein in das bitterkalte Gotteshaus gekommen. So aber war es neben der Heiligen Messe auch noch eine Mordsgaudi, und eine Mordsgaudi mögen die Bayern alleweil.

»… ja, mir san mit’m Radl da …«

An diesem Sonntag war es still in der Bundesrepublik Deutschland und in allen umliegenden Ländern. Verwaist lagen Straßen und Autobahnen. Die Bundesregierung hatte ein striktes Fahrverbot von Sonntag 3 Uhr früh bis Montag 3 Uhr früh erlassen. (Die Araber hielten, was sie angekündigt hatten!) Jetzt mußte jedes Land sehen, daß es so lange wie möglich mit seinen Ölvorräten auskam. Also: Fahrverbote, Geschwindigkeitsbegrenzungen – höchstens 100 km/h –, Heizungsbeschränkungen – höchstens 20 Grad in öffentlichen Gebäuden und Schulen, im Bundestag, in Kinos und Theatern –, Fahrgenehmigungen.

Die deutschen Wohlstandsbürger hatte der Schock schwer getroffen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlten sie sich wieder an die Zustände bei Kriegsende erinnert. Vollgefressen, vollgesoffen, voller Erfolg, sahen sich nun auf einmal viele um den Sinn ihres Schuftens, Schaffens und Raffens gebracht: Sie durften am Sonntag nicht mehr Auto fahren!

Die geliebten Autos!

Es gibt nichts, was viele Deutsche mehr lieben als ihre Autos. Gatten, Gattinnen, Freundinnen, Freunde, Kinderlein, Gesundheit – alles ist diesen Leuten wurscht, wenn es um ihre Autos und um deren hemmungslose Benutzung geht. Und um die ging es jetzt. Also, das allein war für viele fast schon ein Grund zum Selbstmord …

»… ja, mir san mit’m Radl da …«

Für Jakob Formann war es kein Grund zum Selbstmord.

Sondern sozusagen im Gegenteil! Unser Jakob blühte richtig auf. Seit Kriegsende hatte er sich nicht so wohl gefühlt. Das kam so: Seit Kriegsende bis zur Ölkrise von 1973 hatte er kaum einmal so leben können, wie es immer sein Traum gewesen war: naturverbunden, sportlich, vor allem hoch zu Rad, so weit und so oft und so lange er wollte, zu körperlicher Ertüchtigung. Im Ernst: Das, was für Millionen in aller Welt ein Alptraum war, das bedeutete für Jakob Formann (zunächst!) etwas ganz und gar Wunderbares!

Ruhe! Frieden! In-sich-gehen-Können! Ausspannen! Ferien machen! Faulenzen! Wieder wie ein normaler Mensch leben! Ja, war das denn nichts? so fragte Jakob. Und vor allem: radeln, radeln, radeln! Nein, nein, versicherte Jakob sich glücklich immer wieder, ich bin noch der alte. Ich bin noch der Springinsfeld. Ein Springinsfeld mit kleiner Glatze meinetwegen. Aber sonst: oho! Mich müssen noch viele Schläge treffen, eh mich der Schlag trifft!

Und so sprach er denn stets ernst und eindringlich mit allen Kleinmütigen: »Was denn, was denn? Glaubt ihr, das halten die Araber durch? Glaubt ihr, die können auf ihrem Öl sitzenbleiben? Die brauchen schließlich auch Geld! Keine Sorge! Relaxt mal ein wenig (nein, nein, ›relax‹ hat nichts mit Abführmitteln zu tun, sondern bedeutet ›entspannen‹), und dann werdet ihr sehen, wie sie ankommen werden, die Scheichs, und vor uns hinknien mit ihren Ölkanistern und uns anflehen mit erhobenen Händen: Nehmt, so nehmt doch um Himmels willen wieder Öl von uns!«

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Hei, sauste Jakob dann in der folgenden Zeit über die verwaisten Autobahnen um München! War das eine Lust! War das eine Freude! Und tief einatmen, und tief ausatmen! Und strampeln, strampeln, strampeln!

Am 25. November 1973, an jenem Sonntag, da er in der Kirche von Hammering bei Passau so fröhlich gesungen hatte, war er anschließend noch ein Stündchen durch den schönen deutschen Wald gefahren, dann hatte er gegessen, dann ein Nachmittagsschläfchen gehalten (dazu war er seit 1946 nicht mehr gekommen!), und des Abends hatte er dann sogar Muße gefunden, mit der Lektüre eines neuen Romans von Klaus Mario Schreiber zu beginnen, den dieser ihm ausdrücklich (Gott, war das lieb von dem alten Saufaus, der nun keiner mehr war) dediziert hatte.

DIE ANTWORT KENNT NUR DER REGENBOGEN war der Titel des Romans, und Jakob las lange und entspannt im Zimmer des Hotels zu Passau, in dem er stets abstieg, denn in Passau stand eines seiner Fertighauswerke. Die ANTWORT gefiel Jakob sehr. Nur, warum mußte der Schreiber immer noch so schweinische Szenen ins Buch einbauen? Der war doch so begabt! Hatte der denn solche billigen Effekte nötig? fragte sich Jakob. Und also fragten viele andere von Schreibers Lesern (denn er hatte jetzt massig Leser), und nicht anders fragten die Kritiker, die ihn verrissen.

Na ja, jeder wie er kann und muß. Man muß tolerant sein, dachte Jakob noch, während er, das dicke Buch auf der Brust, selig entschlummerte. Siebenundzwanzig Jahre Nachmittagsschlaf nachzuholen hatte er! Siebenundzwanzig Jahre, das stelle man sich erst einmal vor! Der Ölboykott brachte Jakob sozusagen die ersten Ferien seines Lebens, zuvor hatte er nie Zeit für Ferien gehabt. Nur einmal zwei Monate mit BAMBI.

Natürlich ließ es sein Temperament einfach nicht zu, daß er überhaupt nicht arbeitete! Er arbeitete – aber sozusagen schaumgebremst. Er kümmerte sich um sein Imperium – aber nach dem Motto ›Eile mit Weile‹, und das mit Schwergewicht auf ›Weile‹. Er konnte nicht klagen, bei ihm ging überall in der Welt alles tadellos, es gab keinen Grund zu irgendwelcher Panik! Das sagte er auch immer dem Wenzel Prill, der ihm mit Unheilsprognosen die Ohren vollsang.

Karl Jaschke war ein fauler Hund, der sich überhaupt nicht für Sport interessierte. Nur für den mit seiner Rothaarigen in Garmisch.