»Du meinst also wirklich …«, murmelte Jakob nach einer langen Stille dumpf.
»Und ob, meine ich wirklich …« Wenzel rang nach Luft. »Ihr habt weiß Gott was gemacht in der letzten Zeit …«
»Erlaube mal, wir haben gearbeitet wie immer!« (Jaschke).
»Aber nicht wie Misaras drüben in Los Angeles! Nicht wie die in Tokio und Rom und Buenos Aires und Stockholm! Nicht wie ich, der ich versucht habe – sechzehn, achtzehn Stunden am Tag –, diese Lawine, die da auf uns zukommt, aufzuhalten – vergebens! Wie oft habe ich mit Experten gesprochen! Sie alle haben dasselbe gesagt: Bis neue Energieträger das arabische Ölmonopol brechen könnten, müßten mindestens fünfzehn Jahre vergehen.«
»Wieviel Jahre?« erkundigte sich Jakob, während seine Schläfennarbe zuckte wie verrückt. Pfote, Pfote, warum hilfst du nicht?
»Du hast schon richtig gehört«, sagte Wenzel. »Und mir san mit’m Radl da.«
Aber Jakob hatte sein Selbstvertrauen bereits wiedergefunden. Sie funktionierte also doch noch immer, die gute alte Hasenpfote. Er stand auf.
»Wo willst du hin?« fragte Wenzel.
»Losfliegen, sofort!«
»Wohin?«
»In die ganze Welt«, sagte Jakob. »Überall dorthin, wo meine Fabriken stehen. Mir scheint, jetzt geht’s wirklich um die Wurscht!« Und ohne ein weiteres Wort verließ er grußlos die Halle.
Die beiden Freunde starrten die Tür an, hinter der Jakob verschwunden war.
Dann fand der Karl Jaschke es an der Zeit, seinen Lieblingsausspruch in Zeiten schwerer Bedrängnis auszusprechen, laut und deutlich. Er sagte erschüttert: »Verflucht, sprach Max und schiß sich in die Hose.«
59
Das erste Mal fuhr Jakob noch im Rolls-Royce und ungemein seriös gekleidet vom DOM-HOTEL in Köln zum CWWDWW. Das war am 18. Juni 1975, und Jakob hatte 282 451 Flugkilometer sowie an die sechzehn Monate der schwersten Schufterei seines Lebens hinter sich. Er war nicht mehr zur Ruhe gekommen seit jenem Gespräch mit Wenzel, das ihn im Januar 1974 aus seinen friedlichen Ferien gerissen hatte.
Wie ein Irrer war er um den Erdball gejagt, um sein selbstgeschaffenes Werk zu retten – denn leider hatten die Befürchtungen Wenzels sich bewahrheitet. Die Ölkrise war zur Weltkrise geworden, und sie hatte auch Jakobs Imperium nicht verschont. Sein Haar war in dieser Zeit vollkommen grau geworden, die Glatze doppelt so groß – aber damit hatte es sich auch. Ungebrochen wie eh und je waren Jakobs Optimismus, Jakobs Leistungsfähigkeit, Jakobs Unternehmergeist und Jakobs Chuzpe. Sein Lieblingsausspruch bei jeder sich bietenden Gelegenheit: »Noch hängt die Hose nicht am Kronleuchter!«
Otto fuhr schweigend südwärts, in Richtung der Kirche Sankt Severin. Dort, in einer vornehmen Straße, lagen die Räume des CWWDWW.
Jakob sah aus dem Fenster, lächelte, pfiff sich eins und drückte vorsichtshalber die Hasenpfote.
»Was heißt das eigentlich, CWWDWW, Jakob?« fragte Otto.
»Das heißt«, belehrte Jakob ihn milde, »CONSILIUM ZUR WAHRUNG DER WELTGELTUNG DEUTSCHER WERTE UND WÄHRUNGSINTERESSEN. So hat’s jedenfalls auf all den Briefen gestanden, die ich so ab und zu gekriegt habe. Was soll das eigentlich, habe ich mir gedacht. Ich mache mir meine Werte und meine Weltgeltung alleine. Also habe ich das Zeug in den Papierkorb geschmissen. Aber jetzt haben diese Brüder von dem Stotterverein mir ganz dringende Fernschreiben geschickt, ich soll unbedingt heute herkommen. Was wird schon sein?«
»Aber hängt das nicht vielleicht mit der Krise zusammen?« fragte Otto besorgt.
»Klar.« Jakob lachte, aber freudlos. »Diesen CW-Verein, verstehst du, Otto, haben die großen Banken aufgezogen. Und ich habe doch eine Menge mit den Banken zu tun.«
»Aber was bedeuten eigentlich solche Sprüche wie ›Weltgeltung Deutscher Werte‹?« fragte Otto. »Was ist das für eine blödsinnige Bezeichnung?«
»Ich kann es dir im Moment auch nicht sagen, mein Alter.« Jakob pfiff wieder fröhlich. Diesmal, weil ein Mädchen mit einem sehr kurzen Rock und einer sehr ausgeschnittenen Bluse an ihnen vorüberglitt. Er winkte dem Mädchen zu. Es winkte zurück. Na, funktioniert ja noch, dachte Jakob. »Bei uns gibt es eine Menge blödsinnige Bezeichnungen, weißt du?« fügte er hinzu. »Ich werde jetzt ja gleich erfahren, was das heißen solclass="underline" ›Wahrung der Weltgeltung Deutscher Werte‹!«
60
»›Weltgeltung Deutscher Werte‹, das soll heißen: Ehrlichkeit, Tüchtigkeit, Sauberkeit, Qualität und Sicherheit, Herr Formann. All das hat die Markenbezeichnung ›Made in Germany‹ zu einem Begriff werden lassen! In diesen schweren Zeiten ist eine Institution vonnöten, die darüber wacht, daß der Weltbegriff ›Made in Germany‹ weiterhin bestaunt, begehrt und bewundert wird, und zwar meine ich damit ebenso alle Produkte ›made in Germany‹ wie die Hersteller aller Produkte ›made in Germany‹ beziehungsweise, und das eigentlich vor allem, die absolute Honorigkeit und über alles erhabene Integrität der Führer unserer Wirtschaft«, sagte der Herr an der Spitze des langen Tisches in dem kostbar eingerichteten Konferenzraum – Mahagonitäfelung, dicke Teppiche, ein Prachtleuchter – eine halbe Stunde später zu Jakob. Er lächelte ihn freundlich an. Jakob lächelte nicht. Jakob bekam keinen Ton heraus, und das wollte etwas heißen. Jakob war sprachlos. Und die Narbe an seiner Schläfe pochte wie noch nie.
Außer Jakob saßen an dem langen Tisch sieben Herren. Sechs davon waren Generalbevollmächtigte von Großbanken, mit denen Jakob zusammenarbeitete – seit vielen Jahren. Er kannte sie alle. Er kannte auch den siebenten Herrn, der an der Spitze der Tafel saß – als Präsident des CONSILIUM ZUR WAHRUNG DER WELTGELTUNG DEUTSCHER WERTE UND WÄHRUNGSINTERESSEN. Dieser siebente Herr hatte zu ihm gesprochen. Er war sehr groß, blond, blauäugig und von dezenter Eleganz. Ein Hauch eines äußerst dezenten Eau de Cologne umgab ihn. Er war sozusagen das fleischgewordene Sinnbild der Weltgeltung deutscher Werte.
»Sie!« sagte Jakob, während ihm immer mehr Blut in den Kopf schoß.
»Bitte?«
»Sie!« Jakobs Fäuste ballten sich.
»Herr Formann, Sie wiederholen sich.«
»Sie Schw …« Im letzten Moment fing sich Jakob. Die Bankenvertreter sahen ihn bereits mit hochgezogenen Augenbrauen an. Scheiße, dachte unser Freund, ich kann nicht so, wie ich will. Ich kann jetzt nicht ›Schweinehund‹ sagen zu diesem Schweinehund, diesem verfluchten. Nein, dazu ist meine Lage zu mies. Dazu sind diese Herren zu fein. Dazu bin ich zu abhängig von ihnen. Aber das ist doch wirklich die Höhe!
»Wie meinen Sie, Herr Formann?« fragte der Präsident, immer noch freundlich lächelnd.
»Herresheim …«
»Herr von Herresheim, nicht wahr?« mahnte der Präsident.
Da sitzt er also nun, dieser ehemalige Herr Wehrwirtschaftsführer aus dem Dritten Reich, dachte Jakob, schwer atmend. Dieses Arschloch, dem ich in all den Jahren immer wieder und wieder begegnet bin, und zwar in immer ehrenvolleren und höheren Positionen, dieses Herresschwein, das ich versucht habe, mit Hilfe von sowjetischem Belastungsmaterial abzuschießen, was mir nicht gelungen ist. Da sitzt dieser Schweinesherr, dem ich nichts anhaben kann, dem keiner etwas anhaben kann, nicht das geringste – er, der einzige, dem ich nicht gewachsen bin, er, der Unbesiegbare!
Einer der Bankmenschen räusperte sich lange und laut. Seine Kollegen waren gleich ihm verwirrt über Jakobs Betragen. So geht das nicht, dachte der, denn er bemerkte natürlich die Verwirrung. Ich muß hier einen glänzenden Eindruck machen, nicht einen absonderlichen. Und zwar schleunigst.
»Ich war nur so erstaunt, Sie hier wiederzutreffen, Herr von Herresheim«, sagte er darum, nun fließend (und die Hasenpfote beinahe zerquetschend).
»Das letzte Mal haben wir uns im …«
»… Verband Deutscher Unternehmer gesehen.« Der von Herresheim nickte und lächelte. »Ja, lieber Herr Formann. Das ist nun auch schon wieder eine kleine Ewigkeit her.«