»Daß ich gesagt habe, die kennt jedes Kind.«
»Na, offenbar ist es ja auch so«, antwortete er dumpf.
»Das spielt keine Rolle. Für dich war es etwas, von dem du gedacht hast, außer dir kennt es keiner, mein Armer … Und du warst sicherlich sehr stolz darauf …«
»Jetzt nicht mehr.«
»… und hast dir viel zugute gehalten auf diese Schlittenfahrt, und da sage ich dumme Kuh, jedes Kind kennt sie. Ich wollte dich doch nicht verletzen, dir nicht wehtun, mein Gott …« Natascha schluchzte auf. »Und doch muß ich es tun!«
»Eh?« Jakob kratzte seine Schulter. Er starrte Natascha an. »Was mußt du?« (Ein feiner Tag heute!)
»Dir wehtun«, jammerte die Dame.
»Warum denn, Natascha?«
»Weil … Nämlich … Es geht nicht anders …«
»Was geht nicht anders?«
»Ich habe so lange mit mir gekämpft!« gab Natascha bekannt. »Ich habe so viele Nächte keinen Schlaf gefunden! Ich habe mich eine Ewigkeit immer und immer wieder gefragt: Darfst du es tun?«
»Und jetzt bist du soweit, daß du weißt, du mußt es tun.«
»Jetzt bin ich soweit, ja.« Tragisch lastende Stille.
Dann forschte Jakob: »Was, verflucht und zugenäht, mußt du tun?« (Man sieht, Jakobs Lebensgeister kehrten trotz des schrecklichen Versagens seines kostbarsten Gutes wieder.)
»Ich muß dich verlassen«, hauchte Natascha und umarmte den nackten Jakob wild.
Bumm, dachte der. Wieder eine! Das geht ja immer schneller und schneller. Warum denn die?
»Warum denn?« fragte er, etwas allzu geschäftsmäßig, aber nur, weil er es eben wie ein Geschäftsmann schon allzu häufig gehört hatte.
»Ich liebe ihn so unendlich. Ich liebe auch dich unendlich«, behauptete Natascha. »Das ist ja mein Dilemma.«
»Dein … hrm … Dilemma, mein liebes Kind?«
»Ja …« Plötzlich heulte Natascha wie ein Schloßhund. »Ich liebe dich unendlich, Jake, Darling, und ich liebe Karl-Heinz unendlich … Aber nur platonisch, verstehst du, das ist ja die größte Qual für mich gewesen in all der langen Zeit, nur platonisch …«
»Was für ein Karl-Heinz, mein Kind?« Er hielt mit Mühe an sich. Wenn sie mich noch lange so naßflennt, scheuere ich ihr eine, dachte er.
»Mein Gott, der Prinz Karl-Heinz von Heidersdorff, mit dem ich diese Weltreise gemacht habe!«
»Ah, der.« Munter, munter.
»Den ich bei deiner großen Gala in Cap d’Antibes kennengelernt habe …«
»Jajaja, ich weiß schon … Also, den liebst du auch so sehr wie mich? Aber nur … wie hast du gesagt?«
»Aber nur platonisch«, antwortete Natascha. »Weil ich dich nie betrügen wollte und konnte … Doch so geht das nicht weiter … Das halte ich nicht aus … Daran gehe ich zugrunde … seelisch meine ich … Und er auch …«
»Er auch? Ja, also das ist natürlich unmöglich.«
»Nicht wahr, das verstehst du?«
»Das verstehe ich.« Komisch, wie man eine Frau von einem Moment zum anderen völlig verschieden sieht. So, als hätte man ein Opernglas umgedreht. Zuerst war Natascha riesig groß, jetzt ist sie winzig klein.
»Ich habe gewußt, du wirst es verstehen!« Natascha schlang beide Arme um Jakobs Hals. »Du bist ein Mann, der alles versteht! Ein Mann mit einem großen Herzen und mit einer großen Seele …« Wenn mich dieses Weib nur loslassen würde, die würgt mir ja noch die Luft ab, außerdem ist das widerlich, so verschwitzt wie ich bin. Aber nein, die klebt fest. »Gott, bin ich glücklich, daß ich es dir gesagt habe. Eine Zentnerlast ist von mir gefallen.« Ist immer noch eine Zentnerlast drauf, dachte er. Schmuck zum Beispiel, Bankkonten zum Beispiel, Gold, Häuser, Pelze, eine Jagd mit Forellenzucht zum Beispiel. »Du … du bist der Mann, der vom Leben unbarmherzig durch die Welt gehetzt wird, Tag und Nacht mit deinen Geschäften belastet … ein großer, ein unvergeßlicher Mann … Aber du hast so wenig Zeit für eine Frau … Wann haben wir einander schon richtig gesehen in den ganzen letzten Monaten? Auch daran kann die größte Liebe zugrunde gehen, Jake, Darling …«
»Kann sie, ja. Und dieser Karl-Heinz, dieser Prinz, der wird nicht so herumgehetzt wie ich? Der hat Zeit für dich?«
»Hätte.«
»Pardon, hätte. Mit dem könntest du immer zusammensein?«
»Ja-ha.«
»Aber der ist doch aus der Schwerindustrie, dieser Millionär«, grübelte Jakob.
»Er hat es sich anders eingeteilt, weißt du. Er arbeitet nicht selber, er läßt andere arbeiten. Er ist ein Erbe, dem sein Geld nur so zufließt. Es gibt dafür berühmte Beispiele in Deutschland, Jake. Zum Beispiel der …«
»An den habe ich auch gerade gedacht. Hm.«
»Bitte?«
»Nichts. Ich habe nur ›hm‹ gesagt.«
»Hm, was? Darling, sprich zu deiner Natascha. Schweige jetzt nicht. Gib ihr ein Wort! Ein einziges Wort, mein Gott …«
Also, jetzt steht’s fest: Diese Natascha, die hat ja nicht mehr alle Tassen im Schrank. Diesen Karl-Heinz mir vorzuziehen! Diesen Nichtstuer! Diesen Schönling … Nein, das war der vom Hasen. Ich meine diesen Playboy, diesen Herumtreiber! Das ist nicht die Natascha, die ich geliebt habe! Was geht mich diese Natascha an? Trottel verfluchter, der ich bin. Misaras hat ganz recht gehabt, damals, in Los Angeles, als er mir die Leviten gelesen hat wegen dieser Natascha. Ausgenommen wie eine Weihnachtsgans hat das Luder mich, und jetzt, wo ich … ich meine, mit der Glatze und all der Überarbeitung … jetzt hat sie plötzlich ihre Liebe für den Karl-Heinz entdeckt. Plötzlich? Die treibt’s mit dem doch ganz bestimmt mindestens seit der Weltreise. Vorher schon! Und das ist einige Jährchen her! Und einige Jährchen schleppe ich dieses Luder mit mir herum, und wahrscheinlich kennen alle die Wahrheit, nur ich nicht, und ich mache mich lächerlich vor aller Welt, und … Jakob unterbrach seinen Gedankenschwall und sprach milde: »Wie recht du hast, Natascha.«
»Wie-ie?«
»Mit deinen Worten. Ich bin kein Mann für dich. Ich habe dich vernachlässigt. Karl-Heinz dagegen, der wird immer für dich dasein …«
»Du … du … du …«
»Na!«
»… du gibst mich also frei?«
»Natürlich gebe ich dich frei. Ich wäre ja ein Verbrecher, wenn ich dich festhielte. Bei meinem Leben! Und dem Leben, das du an der Seite von Karl-Heinz führen kannst …« Und dem du die Chinesische Schlittenfahrt beibringen kannst, du ausgekochtes Stück, wahrscheinlich hast du sie ihm schon beigebracht, nein, wahrscheinlich noch nicht, denn so was hält das Bürschchen ja nicht aus, der täte nach einer Chinesischen ja sofort auf der Intensivstation landen! Aber versuch’s nur, versuch’s nur! Du wirst schon sehen …
»Und du bist mir nicht böse?«
»Warum sollte ich dir böse sein?« fragte er mit vor Edelmut bebender Stimme. »Wenn das Herz spricht, muß der Mund schweigen.« Das habe ich aus einem Buch von der Edlen. Dieser blöden Kuh.
»Du bist so gut, so gut …« Natascha war aufgesprungen und bedeckte Jakobs Gesicht mit vielen feuchten Küssen.
»Gar nicht gut. Nur vernünftig.«
»Nein, gut! Was … was machst du da?«
»Ich ziehe mich an, mein Kind.«
»Ja, das sehe ich. Aber warum, Jake, Darling?«
»Ich muß noch etwas ganz Dringendes erledigen.« Ins Badezimmer sollte ich eigentlich noch – ach was, zum Teufel!
»Das ist dir jetzt eingefallen?«
»Das ist mir jetzt eingefallen.«
»Da siehst du aber, Darling, wie recht ich habe! Wenn du sogar aus dem Bett aufstehst wegen deiner Geschäfte und deine kleine Natascha allein läßt …«
»Verflucht noch mal, warum komme ich nicht in diese Unterhose rein? Reg dich nicht auf, Natascha. Wir werden Freunde bleiben, für immer. Und werden noch richtig voneinander Abschied nehmen und später mit Karl-Heinz zusammentreffen, diesem wunderbaren Mann …«
»Jake, du bist einmalig!«
»Ach gar nicht. Ich bin meiner Zeit nur immer um zwei Schritte voraus. Herrgott, wo ist jetzt wieder mein zweiter Schuh hingeraten?«
63
Das zweite Mal fuhr Jakob Formann mit dem Fahrrad vom DOM-HOTEL zum CWWDWW. Das war am 2. Oktober 1976. So lange hatte es gedauert, bis zwei Dutzend seiner Buchhalter sämtliche Bilanzen für Jakobs Betriebe in der ganzen Welt auf den neuesten Stand gebracht hatten und diese an die Banken verschickt worden waren. Eine Kopie – auf Wunsch – auch an Herrn von Herresheim.