Wie gesagt, so eine Zeile aus so einem Lied, wenn sie sich erst einmal im Gehirn festsetzt, kann fürchterliches Unheil anrichten!
Jakob Formann war von Köln nach München gereist und von da in sein Schloß (das ihm nun nicht mehr gehörte) am Starnberger See, um das zu holen, was man ihm erlaubt hatte zu behalten, nämlich etwas Kleidung und eine Armbanduhr, Wische und Schuhe. (Das Fahrrad hatte er im Zug nachkommen lassen und in die Garage des Schlosses gestellt.) Mitten im Packen hörte er plötzlich das Telefon läuten. Er hob ab, und eine Männerstimme – die Mädchen der Telefonzentrale kamen längst nicht mehr – fragte ehrerbietig: »Entschuldigen Sie, spreche ich mit dem Herrn Baron Rothschild?«
Jakob wurde von einem Lachsturm geschüttelt.
»Lieber Gott im Himmel«, ächzte er, »sind Sie falsch verbunden!« Und legte auf. Er mußte immer weiter lachen.
Da läutete das Telefon wieder.
Wenn es derselbe Kerl ist und mir da einer das mit Fleiß macht, dann werde ich ihm jetzt etwas erzählen, dachte Jakob, riß den Hörer ans Ohr und brüllte: »Formann!«
»Mensch, Jake, bist du wahnsinnig geworden?« ertönte die Stimme eines entsetzten George Misaras.
»Nein.«
»Warum brüllst du dann so?«
»Schade um das viele Geld für das Gespräch, George! Du weißt doch, jetzt steht ihr alle auf eigenen Füßen. Nicht mehr auf meinen!«
»Deshalb rufe ich dich ja an!«
»Weshalb?«
»Weil ich … weil du … weil wir …« Misaras war verlegen. »Weil wir doch so alte Freunde sind! Und seit du gesagt hast, ich soll dir alle Bilanzen deiner Werke schicken, weiß ich, wie tief du im Dreck steckst.«
»Tiefer, als du überhaupt denken kannst«, amüsierte sich Jakob.
»Haben sie dir alles genommen, die Hunde?«
»Alles, natürlich.«
»Dann weißt du ja jetzt nicht einmal, wo du wohnen sollst! Dann hast du ja jetzt nicht einmal ein Dach über dem Kopf!«
»Stimmt. Hier aus dem Schloß muß ich bis zum Abend raus sein.«
»Und wo willst du dann hin?«
»Es gibt Nachtasyle, mein Alter.«
»For Christ’s sake! Das ist ja grauenhaft! Das kommt, weil du nie an dich gedacht hast, sondern immer nur an andere. An uns, zum Beispiel! Mojshe, ich, der Wenzel und der Jaschke, die haben jetzt ihre schönen Häuser und Autos und Bankkonten und werden sie auch behalten. Du hast gar nichts! Auch deine Bankkonten haben sie dir natürlich genommen!«
»Natürlich auch die Bankkonten! Und recht geschieht mir!«
»Du kannst doch aber nicht in einem Nachtasyl schlafen!«
»Ich habe schon schlimmer geschlafen! Im Strafbunker in Rußland oder in einem Loch bei Artilleriebeschuß oder später dann in Wien in Wärmestuben … Es gibt schon eine Million Arbeitslose in Germany. Warum soll ich nicht dazugehören? Laß mich doch in Ruhe, George!«
»Shut up! Ich habe schon alles vorbereitet! In zwei Stunden holt dich ein Chauffeur aus München im Mercedes ab und bringt dich nach Riem, zum Flughafen! Dort gehst du zum LUFTHANSA-Schalter! Eine Karte liegt da für dich! Erster Klasse Los Angeles! Ich hole dich hier am Airport ab. Du kommst jetzt erst mal zu mir! Zu meiner Frau und mir! Und ruhst dich aus und machst Urlaub und erholst dich …«
»Also hör mal, George«, sagte Jakob entschieden, »das ist ja alles sehr lieb von dir, aber das kommt natürlich unter gar keinen Umständen in Frage!«
65
Zwanzig Stunden später lag er dann im Garten von George Misaras’ Haus an der Rossmoyne Street im nördlichen Stadtteil und Nobelvorort Glendale von Los Angeles in der Sonne und grunzte zufrieden.
»Bist schon ein feiner Kerl, Georgie-Boy«, sagte er. »Ich denke, ich werde mich wirklich ein bißl erholen bei euch …«
Und das tat er! Er fuhr Rad, spielte Tennis, schwamm und machte seine gymnastischen Übungen, begleitete das Ehepaar Misaras zu vornehmen Partys oder nahm an solchen vornehmen Partys teil, wenn das Ehepaar Misaras sie gab. Jakob wurde von Hand zu Hand gereicht. Kein Wunder – der Eklat seines (ogottogott!) ›Zusammenbruchs‹ hatte weltweit Furore gemacht.
Jakob schlief lange, aß gut und reichlich, ja, und so tief war er gesunken, daß er nun eine Menge las – darunter ein neues Buch von Klaus Mario Schreiber, schon ins Englische übersetzt, deutscher Titel UND JIMMY GING ZUM SONNENUNTERGANG – wiederum ein internationaler Bestseller! Tja, der Schreiber, dachte Jakob versunken lächelnd. Der hat eine Nase gehabt, der alte Saufaus, der ist rechtzeitig abgehauen und hat Schluß gemacht mit dem Saufen und der OKAY und lebt jetzt mit seiner Claudia in Monte Carlo und schreibt nur noch, was er will – und verdient sogar einen Haufen Geld damit! Jakob versank tiefer und tiefer in Träumereien, mit jedem Tag mehr. Misaras hatte recht gehabt: Es war allerhöchste Zeit gewesen, daß er mal ausspannte! So blieb er denn bei seinem ehemaligen MP-Freund und dessen schöner Frau, und zu Weihnachten sang er brav mit ›I’m dreaming of a white Christmas!‹ und bekam einen Haufen Geschenke – hauptsächlich Anzüge und Kleidung – und war sehr glücklich, auch noch zu Silvester. Auch noch zu Ostern. Da war er dann allerdings nicht mehr so glücklich.
Misaras merkte es.
»Was ist denn los mit dir?« fragte er Jakob.
»Ach weißt du«, erklärte dieser, »ich kann es selber nicht sagen. Ihr seid so gut zu mir. Es ist so schön bei euch. Alle andern können mich am Arsch lecken. Meinen alten, stillen Standpunkt habe ich wieder. Jeden Abend freue ich mich vor dem Einschlafen, wenn ich daran denke, wie dieses Herresschwein nicht schlafen kann vor Sorgen – so wie ich früher oft nicht habe schlafen können vor Sorgen –, weil er jetzt meinen ganzen Krempel auf dem Buckel hat und bei den Banken seinen dämlichen Schädel hinhalten muß. Und trotzdem …«
»Und trotzdem?«
»Du bist mir nicht böse, Georgie-Boy, wenn ich es dir sage?«
»Ich werde dir niemals böse sein, Jake, was immer du sagst! Also raus damit, was ist es?«
Und da kam es dann zum ersten Mal über Jakobs Lippen: »Siehst du, Georgie-Boy, ich fühl’ mich nicht zu Hause …«
»Ist etwas passiert? Habe ich etwas falsch gemacht? Hat meine Frau etwas falsch gemacht?«
»Richtig, nur richtig habt ihr alles gemacht! Das ist kein Gefühl, das sich gegen dich oder Los Angeles oder Kalifornien richtet. Es ist eigentlich überhaupt kein Gefühl. Es ist … so was Unruhiges, verstehst du? Du verstehst nicht, was ich meine … Aber ich fühl’ mich ganz einfach nicht zu Hause!«
»Natürlich verstehe ich dich! Man kann nicht zu lange bei einem Freund bleiben, nicht? Mojshe ruft mich schon seit Wochen an!«
»Mojshe?«
»Aus New York! Er hat da ein ganz phantastisches Penthouse am East River! Ich habe ihm versprochen, daß ich dich zu ihm schicke, wenn du hier die Nase voll hast!«
»Ich will aber gar nicht nach New York zu Mojshe!«
»Wo willst du denn hin? Sag es, und du bist dort! Sag irgendeinen Ort auf der Welt! Egal, wo! Na los, los, los, sag schon! Wo willst du hin?«
Jakob wand sich verlegen.
»Ja, also, ich weiß eigentlich gar nicht, wo ich wirklich hin will, Georgie-Boy …«