»Na, aber dann nix wie nach New York zu Mojshe!«
Einen Tag später war Jakob dann bei Mojshe.
Mojshe bewohnte wirklich ein wunderbares Penthouse. Er war mit einem hohen Rang aus der Armee ausgeschieden, und er hatte massig Geld gespart, denn er bekam dazu noch eine hohe Pension und verdiente mit seinen ›Encounter‹- und ›Sensibility-Training‹-Instituten mehr denn je. Eine richtige jiddische Momme hatte er geheiratet, die ihn umsorgte wie ein kleines Kind und die nun auch Jakob umsorgte wie ein kleines Kind. Jakob war selig.
»Ach, Mojshe«, sagte er oft, wenn er dem Freund beim Pflegen und Züchten von Orchideen half, »weißt du noch …« Und dann erinnerten sie sich gemeinsam an irgendein völlig verrücktes Erlebnis aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Tja, und dreieinhalb Monate später war es dann auch in New York so weit, daß Jakob, neuerlich unruhig geworden, zu Mojshe sagte: »Bitte sei mir nicht böse, aber ich weiß nicht, ich weiß nicht – ich fühl’ mich nicht zu Hause …«
»Zu Hause, zu Hause, ich fühl’ mich nicht zu Hause!« sang Mojshe sofort los, denn er kannte das Kreisler-Lied auswendig. »Dazu habe ich dir die Platte aber nicht geschenkt, Jake«, sagte er zuletzt ernst.
»Mojshe, versteh mich doch …«
»Ich versteh dich schon, Jake. Immer New York ist eben auch nichts für einen wie dich. Der Jaschke ruft schon die ganze Zeit an, ich hab dir nie was gesagt davon. Er will, daß du unbedingt zu ihm nach Murnau kommst … Meinetwegen flieg, Jake! Gut sollst du es haben beim Jaschke! Bleiben sollst du, solange du willst! Und wenn du dich wieder nicht zu Hause fühlst, dann wartet schon der nächste Freund auf dich! Das Ganze ist ein großes Ringelspiel. In einem Jahr oder so sehen wir uns wieder!«
»Ach, Mojshe«, sagte Jakob gerührt.
»Da geht eine herrliche Maschine heute abend vom Kennedy-Airport, die fliegt durch bis München. Ich bring dich hin – mit meiner Sarah natürlich!«
Und so war Jakob denn am nächsten Tag bei Karl Jaschke in Murnau und wurde empfangen wie ein Kaiser und freute sich von Herzen über das Wiedersehen und darüber, was für gute Freunde er hatte.
Er blieb tatsächlich bis zum Mai 1976 in Murnau und radelte und kraxelte auf die Berge und badete im Staffelsee, und siehe da, die alte Bootshütte, in welcher er einstens Frau Doktor Ingeborg Malthus kennengelernt hatte (›kennengelernt‹ ist gut, dachte Jakob grinsend, als ihm dies Wort durch den Kopf ging), war immer noch da! Aber ganz neu hergerichtet! Sie gehörte einem reichen Münchner, der sein Motorboot da aufbewahrte und zu den Wochenenden herauskam.
Ach, aber im Mai 1976 kam der Tag, da sagte Jakob zu seinem Freund Jaschke: »Sei mir bitte nicht böse, Karl, aber …«
»… du fühlst dich nicht zu Hause«, ergänzte der.
»Woher weißt du das?«
»Mojshe und George haben mich angerufen und gesagt, daß der Tag kommen wird. Wir können dich alle gut verstehen. Morgen fliegst du nach Nizza.«
»Was soll ich in Nizza?«
»Der Klaus Mario Schreiber wird dich vom Flughafen abholen und nach Monte Carlo fahren mit seinem Auto. Er ruft seit Wochen an und beharrt darauf, daß er der nächste sein muß, den du besuchen kommst!«
»Ich will aber nicht nach Monte Carlo!« protestierte Jakob.
Vierundzwanzig Stunden später war er dort.
Ach, fand er es schön in Monte Carlo!
Die Sonne! Das Meer! Die vielen Blumen! Der Frieden! Die milde Luft! Wellenreiten und Motorbootfahren und Golfspielen auf dem Mont Agel! Und was hatten die Schreibers doch für ein gemütliches Haus. Zum Verlieben!
Jakob verliebte sich in das Haus und in Monte Carlo, und in alle Menschen da, besonders in Claudia und Klaus Mario Schreiber. Die waren aber auch ganz besonders nett zu ihm. Schreiber schenkte ihm sein jüngstes Buch, als es frisch aus der Presse kam. JEDER IST EINE INSEL hieß es, und Jakob lag abwechselnd unter einem Palmen- und einem Olivenbaum und las, und ganz leise flüsterte der Wind. Bis Februar 1977 dauerte dieses Glück. Dann war es wieder soweit, und er nahm den Klaus Mario Schreiber (der nie wieder einen einzigen Tropfen Alkohol, egal in welcher Form, getrunken hatte und auch nicht zu trinken beabsichtigte) beiseite und sagte ihm, was er schon dreien seiner Freunde gesagt hatte.
Klaus Mario Schreiber nickte nur.
»Da haben wir schon drauf gewartet, Claudia und ich, Herr Formann«, sagte er. »Wann wollen Sie nach Frankfurt fliegen?«
»Wieso nach Frankfurt?« fragte Jakob.
»Na, zu Ihrem Freund Wenzel Prill. Der hat gesagt, er kommt runter und bringt uns um, wenn wir Sie nicht zu ihm in den Taunus schicken, sobald Sie sich hier nicht mehr zu Hause fühlen.«
»Aber ich will nicht zum Wenzel!« rief Jakob.
Achtundvierzig Stunden später war er bei ihm.
Und selig!
Gott, wie lachten die beiden alten Freunde miteinander! Wenzel war immer noch nicht verheiratet, und er hatte noch immer nicht seinen Doktor juris utriusque. (»Zu was brauche ich den jetzt noch?« pflegte er zu sagen.) Seine Leidenschaft für Rothaarige indessen hatte er noch. Jakob sah ein paar von ihnen in den folgenden Wochen und wurde munter.
»Tolle Bienen, was?« Wenzel strahlte. Jakob nickte. »Wenn du mal eine haben willst …«
Jakob wollte.
Mit dem, was folgte, war er sehr zufrieden. Donnerwetter, dachte er, ein Jüngling, ein wahrer Jüngling bin ich noch. Also diese süße Kleine, die ist mir doch nach der zweiten Schlittenfahrt glatt ohnmächtig geworden!
Aber ach …
Wie die Tage vergingen, so wuchs Jakobs Unruhe wiederum. Wenzel, der ihn nicht weglassen wollte, veranstaltete am Abend des 5. Oktober 1977 eine große Party, zu der er viele alte Bekannte seines Freundes lud – Finanzleute, Politiker, Aristokraten, Unternehmer und Kaufleute, die meisten mit ihren Frauen. Alle diese Leute waren Jakob früher stets mit größter Hochachtung und Freundlichkeit begegnet, und Wenzel hoffte zuversichtlich, daß Jakob viele dieser alten Bekanntschaften wieder auf- und zum Anlaß nehmen würde, zu bleiben. Leider irrte der gute Wenzel sich da gewaltig …
Die Zeiten waren mittlerweile sehr unruhig geworden in Deutschland. Es gab Kaufhausbrände, Attentate, Schießereien, Morde, Entführungen, Geiselnahmen, gekaperte Flugzeuge und jede Menge Terroristen.
Der Terrorismus bildete denn auch auf jener Party vom 5. Oktober 1977 das Hauptgesprächsthema, weil nämlich im September wiederum eine ganz hohe Persönlichkeit entführt worden war. Die Entführer verlangten für die Freilassung dieser Geisel die Freilassung inhaftierter Genossen, und um der Sache Nachdruck zu verleihen, entführten andere Terroristen wiederum einmal ein Flugzeug und flogen damit um die halbe Welt, und in der Maschine saßen einhunderteinundzwanzig völlig unbeteiligte Menschen, Männer, Frauen und Kinder. Das Kommando an Bord drohte, das Flugzeug mit all diesen Menschen und sich selbst in die Luft zu sprengen, wenn den Forderungen nach der Freilassung der inhaftierten Terroristen nicht Folge geleistet würde.
Wenzel hatte es wirklich gut gemeint – und wirklich schlecht getroffen. Den Abend lang sprachen die so vornehmen und ehrbaren Damen und Herren über nichts als dieses Geschehen – und überhörten beharrlich alles, was Jakob sagte.
Also, das ist ja ein tolles Ding, dachte Jakob verblüffter und verblüffter. Da sind doch haufenweise Kerle darunter, die mir alles verdanken! Und wie benehmen die sich? Die benehmen sich, als wäre ich überhaupt nicht da.
Jakob wanderte von Grüppchen zu Grüppchen und versuchte, seine Ansichten bekanntzugeben. Es mißlang ihm hundertprozentig. Hm, dachte er, hm. Und setzte sich in einen tiefen Lehnstuhl in der Nähe der Bar. Ein Kellner fragte nach seinen Wünschen. Er trug ein Silbertablett mit Gläsern voll Champagner und Whisky, und es erstaunte ihn, daß Jakob sich ein großes Glas voll Whisky griff, denn vorher hatte Jakob stets nur Orangensaft verlangt. Noch mehr erstaunte es ihn, als Jakob, nachdem er das Glas gekippt hatte, brummte: »Bringen Sie mir eine ganze Flasche und ein Kübelchen mit Eiswürfeln, bitte!«
»Sehr wohl, Herr Formann, aber Herr Prill hat doch gesagt, Sie trinken sonst nie Alkohol …«