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Jakob hatte ein Schlafwagenabteil bekommen. Die alliierten Damen und Herren fanden das unbegreiflich. Ein Österreicher! Ein Zivilist! (Der Provost Marshal hatte sich über die kostbare ›Mein Kampf‹-Ausgabe in Leder und Goldschnitt überhaupt nicht beruhigen können.)

Der befreite Österreicher stand beim Einstieg seines Wagens. Der Hase neben ihm hielt seine Hand ganz fest. Und Jakobs blauer Mantel war mit Kaninchenhaaren übersät. (Sie hatten auf dem Weg zum Bahnhof – die drei Ami-Freunde waren mit einem Weapons-Carrier gekommen – ununterbrochen voneinander Abschied genommen.) Und nun wünschten alle Jakob Glück und Gesundheit und Erfolg.

Jesus Washington Meyer sprach: »Da habe ich ein Geschenk für dich, Jake.«

»Was ist das?« fragte Jakob etwas angeekelt, als er sah, was in Jesusens Hand lag.

»Eine Hasenpfote ist das«, erklärte Jesus. Sie war klein und vertrocknet und ganz hart. »Die hat mir Pa gegeben«, sagte Jesus. »Als ich zur Army mußte. Diese Pfote hat Pa sein ganzes Leben lang Glück gebracht. Mir auch, Jake! Oder glaubst du, ich hätte sonst diesen fucked-up Krieg so gut überstanden? Mein Pa hat die Pfote von seinem Pa bekommen. Diese Pfote ist schon sehr lange in unserer Familie. Wer immer sie besitzt, Jake, hat Glück, no shitting! Du wirst an meine Worte denken. Nur vertrauen mußt du der Pfote natürlich!«

»Ja, aber du brauchst sie doch selber, Jesus …«

»Hell, ich darf doch irgendwann wieder nach Hause. Du mußt in diesem beschissenen Europa bleiben! Du brauchst sie mehr als ich!«

»Ich danke dir also auch schön, Jesus. Bist ein feiner Kerl!«

»Ach, halt die Fresse«, sagte Jesus.

»All aboard!« schrien die amerikanischen Begleitmannschaften.

»En voitures!« schrien die drei französischen Schaffner.

»Ja also …«, sagte Jakob.

Der Hase schluchzte gramvoll auf, dann küßte er den Bären viele, viele Male. (Dabei wechselten noch viele, viele Kaninchenhaare den Besitzer.) Und stammelte: »Komm wieder … komm wieder …«

»Natürlich, Hase«, sagte Jakob, der sich bereits in Waldtrudering und Murnau und Flensburg sah, und, visionär, auch in Jerusalem und Madagaskar und Nord- und Südamerika.

»Jetzt steig ein«, würgte der Hase hervor. »Schnell!«

Jakob strich Julia noch einmal über das Kopftuch, dann kletterte er in den Wagen und ließ das Türfenster herab, um zu winken. Schnee peitschte in sein Gesicht. Türen flogen zu. Die Pfeife der Lokomotive heulte. Der Hase winkte und schrie, aber der Sturm riß ihm die Worte von den Lippen, als der ›Orient-Expreß‹ nun anruckte und langsam in die Nacht hinausglitt. Jakob winkte.

Der Zug ging in eine Kurve. Jakob sah Julia nicht mehr. Er schloß das Fenster und ging den Gang des Waggons hinauf. Bett 31. Die Tür zum Abteil stand offen. Der Herr von Nummer 32, dem Unterbett, saß auf demselben und fraß Schokolade, einen großen Riegel. Er hatte den Mund so voll, daß er nur ein ungläubiges Würgen herausbrachte. Auch Jakob mußte sich am Türrahmen festhalten, so verblüfft war er, diesen Herrn zu sehen.

»Franzl«, sagte er atemlos. »Wie kommst denn du hierher? Dich haben sie doch in Wien eingesperrt!«

Aber Franzl sprang, starren Blicks, in die Höhe, schoß zur Tür hinaus und den Gang entlang.

Jakob blickte ihm kopfschüttelnd nach. Dann setzte er sich auf das untere Bett. Immer noch schüttelte er fassungslos den Kopf. Doch jetzt kam Müdigkeit über ihn. Er ließ sich zurückfallen und schloß die Augen.

22

»Noch einen Whiskey, Jakob?«

»Du weißt doch, ich trinke keinen Alkohol.«

»Nur damit du nicht krank wirst!«

»Dann gerne, Franzl.«

»Wieder nur on the rocks!«

»Wieder nur on the rocks!«

»Na, also dann cheers, mein Alter!«

»Cheers, mein Guter!«

Diese ebenso geistreiche wie gediegene Konversation hatte am Abend des 11. November 1945 in einer Villa in dem exklusiven Wiener Randbezirk Pötzleinsdorf und daselbst in einem großen Badezimmer stattgefunden. Nun, am Abend des 1. Januar 1947 im Türrahmen seines Schlafwagenabteils stehend und den schokoladefressenden Herrn auf dem Unterbett betrachtend, fiel Jakob alles, was damals passiert war, wieder ein – in einer Sekunde.

Ein Badezimmer!

Jakob lag nackt in der Wanne, wohlig Whiskey aus einem Kristallglas schlürfend (obwohl er Antialkoholiker war – aber die Gesundheit ist des Menschen höchstes Gut!), in wunderbar warmem, weichem Wasser. Es war das erste Bad seit seiner Selbstbefreiung aus russischer Gefangenschaft. Er hatte ein Bad nötig. Er hatte einen Whiskey nötig. Er hatte ein Dach über dem Kopf nötig. Es gab nichts, was Jakob nicht nötig gehabt hätte an diesem Novemberabend des Jahres 1945.

Auf dem geschlossenen Klosett saß der Mann, den er Franzl genannt hatte, in einem erstklassigen Kammgarnanzug, mit Seidenhemd samt eingestickten Buchstaben F und A, einer Foulardkrawatte und glänzenden Halbschuhen. An seinen kurzen, dicken Fingern blitzten mehrere große Ringe. Er hatte ein gedunsenes Gesicht mit winzigem rotem Mund, zusammengewachsene Augenbrauen und brillantineglänzendes, sorgsam gescheiteltes dunkelblondes Haar. Seine Augen waren grau und vermittelten den Eindruck von unendlicher Weisheit und Güte.

Der Mann, kleiner als Jakob und viel beleibter, hieß Franz Arnusch. Vor zwei Stunden war Jakob, erst seit zwei Tagen in Wien, noch verzweifelt durch die Stadt geirrt auf der Suche nach einem warmen Platz für die Nacht. Er hatte in diesen zwei Tagen erfahren, daß Vater und Mutter von Bomben erschlagen worden waren, daß in der elterlichen Wohnung (Billrothstraße 29) drei obdachlose Familien saßen, die um nichts in der Welt hinausgesetzt werden konnten, da es sich um Flüchtlinge handelte, die das Wohnungsamt dort nicht eingewiesen hatte und daher nach messerscharfer Logik auch nicht wieder ausweisen durfte.

Mit der bescheidenen Hoffnung auf eine Wärmestube in der Rotenturmstraße war Jakob gerade zwischen der ausgebrannten Staatsoper und dem gegenüberliegenden ausgebrannten ›Heinrichshof‹ dahingeschlichen, als er zwei Bullen von Männern erblickte, die einen großen zusammengerollten Teppich zu einem Auto schleppten. Aus dem Teppich erklangen verzweifelte Rufe: »Hilfe! Hilfe! So helft’s mir doch! Die entführen mich!« Solcherart pflegten muskelstrotzende Herren in jenen Tagen sehr häufig andere Herren in Wien, Wien, nur du allein, abzutransportieren. Rein in den Teppich. Rein in den Wagen. Und nichts wie weg. Von den Transportierten hörte man nie wieder. Diese Art des Menschenraubs war derart gang und gäbe, daß sich kaum jemand auch nur um die Schreie des Opfers kümmerte. Jakob hörte denn auch eine junge Frau zu ihrem Begleiter sagen: »Jöh, schau, Karli, da entführen s’ wieder einen!«

»Ja, Mitzi«, sagte der Karl, »mach ma, daß ma weita kommen!« Und sie enteilten, indessen der Teppichinhalt weiter um Hilfe schrie.

Jakob hatte nachgedacht. Lange und gründlich. Wie stets.

Nun schritt er vor. Er trat zu den Teppichträgern und sprach höflich und sanft: »Grüß Gott, meine Herren. Entschuldigen Sie, wenn ich mich in Ihre Angelegenheiten einmische – aber sind Sie sicher, daß Sie dem Herrn im Teppich gesundheitlich auch nicht schaden?«

»Was is los, du Hundsgfraas, du ang’spiebens?«

»Ich meine: Mangel an Sauerstoff kann zu schlimmen Folgen führen«, erläuterte Jakob und sprach nicht weiter, weil ihm der menschliche Schrank, der das Ende der Teppichrolle trug, wuchtig in den Hintern trat. Jakob kam auf Glatteis ins Rutschen und krachte zu Boden, jedoch nicht, ohne vorher, sozusagen in einer Reflexbewegung, dem menschlichen Schrank, der den Teppich vorne trug, seinerseits in den Hintern getreten zu haben. Der Herr vorne und Jakob saßen auf dem Pflaster.

Der Träger hinten konnte den Teppich allein nicht halten. Der Teppich krachte gleichfalls zur Erde und rollte sich hurtig auf. (Echter Smyrna.) Aus seinem Inneren schälte sich ein fetter Herr.