»Manchmal schon«, sagte Jakob. »Heute abend zum Beispiel. Also, wenn ich um die Flasche ersuchen dürfte, mein Freund.«
»Gewiß, selbstverständlich, sofort, Herr Formann!« Der Kellner verschwand und kehrte gleich darauf mit allem Gewünschten wieder. Jakob goß ein neues Glas voll, ließ zwei Eisstückchen in den Whisky plumpsen und nahm einen weiteren Riesenschluck. Damit (wir kennen seine unheilvolle Beziehung zum Alkohol) war alles, was folgte, bereits sozusagen programmiert …
Scheißbande, dachte Jakob, aus seinem Sessel das bunte Treiben der Geladenen betrachtend, ihrer geistreichen Konversation lauschend, neuerlich Schlückchen nehmend. Scheißbande, verfluchte! Wie viele von euch Blaublütern, euch elendigen, haben mich – leider mit Erfolg – angeschnorrt, wieder und wieder? Wie vielen von euch biederen Wirtschaftsführern habe ich die Karriere ermöglicht? Was habt ihr, ihr Herren der Großbanken, an mir verdient? So geht’s ja nicht! (Schlückchen.) Weil ich nun pleite bin, existiere ich nicht mehr für euch, wie? Weil ihr von mir kein Geld mehr bekommt, kennt ihr mich nicht mehr, was? (Zwei Schlückchen.) Gesindel! Und wenn ich denke, daß es eine Zeit gegeben hat, in der ich vor euch Hemmungen gehabt habe, in der es mein größter Wunsch gewesen ist, aufgenommen zu werden in eure Kreise, verflucht noch mal! (Schlückchen … nein, das Glas ist leer. Füllen wir es also wieder. Das war doch eine gute Idee von mir, daß ich dem Kellner gesagt habe, er soll die Flasche gleich dalassen.) Also dann auf euer Wohl, ihr Mistviecher! Ihr Noblen! Ihr Reichen! Ihr Armleuchter!
Was seid ihr denn wirklich wert, ihr Noblen und Großen und Mächtigen dieser Welt? Als ich Geld gehabt habe, habt ihr mich angebetet! Jetzt? Jetzt scheißt ihr auf mich und werdet wahrscheinlich den Wenzel anschnorren, werdet ihn um Gefälligkeiten, um Fürsprache und was es so alles gibt bitten, denn der Wenzel, der hat noch Geld. (Das ganze Glas ex, neu gefüllt!) Ihr Kreaturen seid immer und überall dort, wo das Geld ist, wo die Macht ist! (Das ganze Glas auf einmal leer.) Die gerade ›herrschende Schicht‹ seid ihr. Und die gerade herrschende Schicht muß im SACHER fressen und im PALACE in St. Moritz wohnen! (Drei große Schlückchen.)
Jakobs jähe Erkenntnisse überwältigten ihn ebensosehr wie der Whisky. Und beides setzte einen unaufhaltsamen Gedankenstrom in Gang: Wer hat mir denn beigebracht, ›fein‹ zu sein und ›fein‹ zu speisen und ›fein‹ zu trinken und ›fein‹ Konversation zu machen? Wer hat mich denn dressiert, daß ich unbedingt (verdammt, es war ja ›bedingt‹, hat dieser dämliche Püschoanalytiker da in Washington gesagt!) – wer hat mich denn dressiert, daß ich bedingt unbedingt wissen muß, wer Hindemith ist und wer die heilige Anna Selbdritt? Durch wen bin ich denn in eure Scheißwelt überhaupt erst richtig hineingekommen und habe Orden und Ritterkreuze und was weiß ich gekriegt? Und meine Zeit mit Angeberei, Geldrausschmeißen und Jet-Set-Getue vergeudet? Wer ist das denn gewesen, der das alles fertiggebracht hat? Wer denn?
Das ist die Edle gewesen, Gott verflucht noch mal! (Drei Schlucke. Glas leer. Glas wieder voll.) Die Edle! Wie die mich getriezt und geschliffen und gequält hat! Was ich bei der ertragen und ausgehalten habe! Dieses hochmütige, selbstgefällige, niederträchtige Aas, das wo zurückgegangen ist bis auf Kaiser Lobgesang! Und damit war Jakob einem Tobsuchtsanfall nahe.
Und mächtig blau. Und verbohrt in seine Idee: Die Edle, die Edle, die Edle ist schuld an allem! Jawohl, an allem! So viele gute, einfache und anständige Menschen gibt es auf der Welt, drei oder vier Milliarden, glaube ich, aber nein, nicht zu ihnen hat die Edle mich gebracht, nicht zu ihnen, nein, sondern zu denen da, zu diesen Arschgesichtern, zu diesen angemalten Weibern (Schlückchen, küß die Hand, gnä’ Frau!), zu diesen ach so Auserlesenen, haha, zu diesen ach so Berühmten, haha, zu diesem ganzen beschissenen Pack, für das ich jetzt nicht mehr existiere, bloß weil ich arm bin.
Das Glas ganz voll!
Das Glas gekippt bis zur Neige!
Schwankend erhob sich Jakob.
Rot, rot, rot wehten Schlieren vor seinen Augen.
»Na warte«, murmelte er und stolperte davon, ohne daß jemand ihn beachtete. »Na warte …«
66
»Aaaaaahhh!«
Mit einem Entsetzensschrei fuhr die Edle in ihrem Bett im Schlafzimmer ihrer schönen Villa im Münchner Prominentenviertel Bogenhausen in die Höhe. Es war noch früh am Morgen – genau 6 Uhr 32.
»Wie kommen Sie hierher, Formann?«
»Mit dem Fahrrad.«
»Ich meine: Wie kommen Sie hier herein, Formann?«
»Durchs Fenster, Baronin. Es war offen.«
»Aber ich schlafe im zweiten Stock!«
»Draußen sind Streben mit Weinlaub, und ich bin ein sehr guter Kletterer.«
»Was wollen Sie eigentlich von mir? Sind Sie irre geworden?«
»Das werden Sie gleich sehen, Baronin.« Weiß Gott, das wird sie, dachte Jakob, aus den Hosen steigend. Den ganzen Weg von Frankfurt bis München über hatte er seine Wut auf die Edle am Kochen gehalten. Jetzt war sie am Überkochen. Weg mit dem Hemd! Raus aus der Unterhose! Und rauf auf die Edle!
Sie kreischte (bis Jakob ihr den Mund zuhielt) und kratzte und trat und schlug, doch es half alles nichts.
Jakob war stärker.
»Jetzt bist du dran«, sagte er, während er ihren letzten Widerstand brach (der schon keiner mehr war – Jakob merkte, wie sie nachgab, mehr und mehr). »Jetzt zahle ich’s dir heim. Deine ganze Scheißerziehung, die keine gewesen ist, und das Gesindel, mit dem du mich verrückt gemacht hast!«
Keuchend, den Kopf hin und her werfend (es war das einzige, das sie noch werfen konnte), erlebte die Edle, was sie noch niemals erlebt hatte. Es brachte sie fast um den Verstand. Man bedenke: Eine Frau mit der Veranlagung dieser Edlen! Ein Mann! Und dieser Mann macht mit ihr, aus kaltem Haß und siedend heißem Zorn, die wüsteste Chinesische Schlittenfahrt seines Lebens!
So wüst war diese Fahrt, daß selbst Jakob, der Sportgestählte, eine Stunde später mit schlackernden Knien wieder in seine Hosen fuhr.
Die Edle aber lag zitternd vor völlig ungewohntem Entzücken und in totaler Schwäche auf dem Bett, unfähig, ein Glied zu rühren, unfähig, eine Silbe hervorzubringen, und so lauschte sie denn hilflos dem, was Jakob ihr noch zu sagen hatte, nämlich dieses: »Also. Sehr Edle und Sehr Mächtige Frau Baronin« (rein ins Hemd, die Knöpfe schließen können wir später) »von Lardiac, Edle Frau und Gerichtsherrin von Valtentante« (Jacke), »erbliche Palastdame am Hof« (linker Socken, linker Schuh), »von Jerusalem zufolge des Privilegs, verliehen der sehr ruhmreichen« (rechter Socken, rechter Schuh) »Familie Lardiac durch Kaiser Friedrich den Zweiten, späterhin König von Jerusalem« (tiefes Atemholen) – »ist Ihnen das jetzt obszön genug gewesen?«
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Epilog
Der Tod ist ein schlechter Abschluß vom Leben.
Es wäre viel schöner sicherlich:
Erst sterben, dann hätte man’s hinter sich –
und nachher leben!
Der Vortragskünstler OTTO REUTTER (1870–1931)
1
Etwa zwanzig Kilometer vor Theresienkron überholte ein junger Lackel auf seinem Rennrad den zügig die Pedale tretenden Jakob. Er überholte ihn auf die gemeinste Art und Weise und schnitt ihm dabei so heftig den Weg ab, daß Jakob bremsen mußte. Und fluchen.
Der Lackel trug Sportschuhe, eine Turnhose und ein gelbes Trikot, auf dessen Rückseite RADSPORTVEREIN LINZ zu lesen war. Der Lackel kam sich ganz groß vor.
Kommst dir wohl ganz groß vor, Lackel, dachte Jakob, der einen weiten Weg hinter sich hatte, aber noch im Vollbesitz seiner sportgestählten Kräfte war. Na, dir werde ich jetzt mal was zeigen, du Schneider, du dreckiger!
Jakob beugte sich tief vor, schaltete die Gänge, trat heftiger und heftiger auf die Pedale und fuhr schneller und schneller. Die Straße war staubig, die Sonne schien am Vormittag dieses 30. Oktober 1977.
Der Knabe vom RADSPORTVEREIN LINZ staunte nicht schlecht, als vier Minuten später Jakob an ihm vorbeisauste, sein Rad genauso gemein nach rechts riß, wie zuvor der andere es getan hatte, und zu dem Knaben auch noch kopfschüttelnd zurückblickte, indessen dieser notbremsen mußte. Mit heruntergeklapptem Unterkiefer stierte der Sportsfreund dem Herrn im grauen Flanell, mit Spangen an den Hosenbeinen, nach. Der hat doch schon ganz graue Haare, der Opa, dachte er, der ist ja mindestens fünfzig!