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So was gibt’s doch nicht.

Der Lackel nahm die Verfolgung auf. Aber er erreichte den Opa nie mehr, er fuhr nur in der von diesem verursachten Staubwolke. Schließlich ließ er hustend und mit tränenden Augen von seinem Bemühen ab. Ich gäb’ was drum, wenn ich bloß wüßt’, wer dieser Kerl gewesen ist, dachte er, denn er ging noch ins Gymnasium, und da lasen sie gerade Goethes ›Faust‹. Mit verteilten Rollen. Der Knabe war das Gretchen. (Dereinst in Rußland war Jakob das Gretchen gewesen.) Und das Gretchen sagt so etwas Ähnliches.

Fünfundzwanzig Minuten später sauste Jakob an einem Schild mit der Aufschrift THERESIENKRON vorbei. Er mäßigte sein Tempo, als er in das Dorf einfuhr.

Dorf?

Er konnte nur staunen!

Da gab es jetzt eine richtige Hauptstraße mit Nebenstraßen und also Kreuzungen mit Verkehrsampeln! Da gab es moderne Häuser! Da gab es einen Supermarkt, ein Kino mit Riesenplakaten, die tolle Pornofilme ankündigten, alle möglichen Arten von Geschäften, drei Bankfilialen, ein schmuckes Postamt!

Junge, Junge, überlegte Jakob, 1946, da habe ich hier in der Nähe gedacht: Gebt mir sieben Jahre Zeit für meinen Krieg! Nun sind es dreißig Jahre geworden. Und was habe ich eigentlich erreicht in meinem Dreißigjährigen Krieg? Ist vielleicht nicht doch der ›Leckt-mich-am-Arsch‹-Standpunkt das einzig Richtige?

Die Leute, denen Jakob begegnete, schauten ihm neugierig nach. Er kannte keinen einzigen, und sie kannten den seltsamen Fremden nicht. Bei der nächsten Kreuzung hielt Jakob und überlegte scharf. Moment mal, wo war jetzt gleich das Haus von der Pröschl-Bäuerin? Das ist ja alles völlig neu hier. Fragen werde ich wohl müssen, so sehr hat sich alles verändert. Oder nein, Moment, da drüben, hinter der Allee, sehe ich die Kirche, die schon 1946 da gestanden hat! Und gleich rechts davon war doch das Haus der guten Frau Luise Pröschl. Na, wir werden ja gleich feststellen, ob es noch da ist.

Jakob bog ab und radelte in Richtung Kirche. Dann erblickte er das Pröschl-Haus. Es war noch da! Aber neu gestrichen, ganz weiß die Mauern, leuchtend grün die Fensterrahmen und -läden, und die Fensterscheiben blitzten nur so. 1946 ist das alles romantisch dreckig gewesen hier, dachte Jakob, über glatten Asphalt radelnd. Da hat es auch noch keinen Asphalt gegeben, nur holprige Wege voller Kuhfladen und Mist vom Misthaufen …

Jakob erreichte das Pröschl-Haus, lehnte das Rad gegen die weiße Wand und klingelte an der Eingangstür. Nichts rührte sich. Er klingelte noch einmal. Eine Frauenstimme ertönte: »Ja doch, ja, ich komm’ ja schon!« Jakobs Schläfennarbe klopfte plötzlich stürmisch.

Die grüngestrichene Tür wurde aufgerissen. In ihrem Rahmen stand, außer Atem, eine Küchenschürze umgebunden – der Hase. Jakob lächelte sein berühmtes Lächeln, während der Hase, im größten Schock seines Lebens, stammelte: »Der Bär …«

»Grüß Gott«, sagte Jakob, »also da bin ich wieder.« Es wäre unklug, dachte er, hinzuzufügen: ›Nach dreißig Jahren‹. Mit so etwas kann man die schönsten Wirkungen zunichte machen.

»Bär!« schrie der Hase jetzt, nachdem er sich ein wenig – ein wenig nur – von dem Schreck in der Vormittagsstunde erholt hatte. »Bär! Bär! Bär!«

Jakob brummte, wie er vor dreißig Jahren gebrummt hatte. Brummen ist noch das klügste, dachte er. Unmöglich kann ich sofort sagen, was mir da beim Wenzel eingefallen ist! So kracht man nicht mit der Tür ins Haus. Da würde der Hase ja was fürs Leben abkriegen! Nein, nein, so geht das nicht. Langsam, Jakob, langsam. Im übrigen dachte er, also Hut ab, der Hase schaut fabelhaft aus! Das braune, volle Haar, die rehbraunen Augen und alle Rundungen immer noch dort, wo sie 1946 gewesen sind. An diesem Hasen ist die Zeit offenbar spurlos vorübergegangen. Dieser Hase ist schon ein ganz außergewöhnlicher Hase. Jakob verspürte ein heftiges Rühren. Ach, dachte er, jetzt fühl’ ich mich endlich zu Hause. Bei meinem guten Hasen. Aber um Gottes willen, was wird mit mir, wenn der mich sofort wieder rausschmeißt?

Davon war indessen keine Rede.

Der Hase ließ den Kochtopf fallen, den er in der Hand gehalten hatte, Kartoffeln rollten Jakob um die Schuhe, und dann stürzten dem guten Hasen Tränen in die Augen, und der gute Hase als ganzer stürzte Jakob in die Arme. Der taumelte ein wenig rückwärts, so stark war die Wucht des Zusammenpralls. Der Hase umklammerte den Bären und küßte ihn wild auf den Mund, dann auf die Nase, auf die Stirn, auf die Wangen, auf die Ohren, er küßte einfach überallhin, wo er küssen konnte. Und flüsterte dazu: »Du bist wiedergekommen … Mein Gott, mein Gott, du bist wiedergekommen … Ich werd’ verrückt! Der Bär ist da! Der Bär ist da!«

»Na ja«, brummte Jakob, dem dieser ekstatische Ausbruch langsam unheimlich wurde, »du hast doch immer gesagt, Hase und Bär gehören zusammen für immer!«

»Für immer!« schluchzte Julia auf. Und weiter ging die Küsserei. »Und du fährst nie mehr weg?«

»Nie … hrm … mehr.«

»Du bleibst jetzt bei mir bis … bis … bis …«

»Na!«

»… bis daß der Tod uns scheidet?«

»Hase! Was ist das für ein Blödsinn?«

»Ich weiß nicht, Bär. Natürlich habe ich gemeint: bis an das Ende unserer Tage?«

»Viel besser klingt das auch nicht«, brummte Jakob. »Was für Bücher liest du denn? Was für einen Umgang hattest du denn?«

»Ach, Bär, ich bin ja vollkommen außer mir! Du darfst jetzt doch nicht jedes Wort, das ich sage, auf die Waagschale legen! Ich lese nur gute Bücher. Und einen Umgang habe ich überhaupt nicht gehabt seit einer Ewigkeit. Nur früher. Und das waren lauter Männer, die ich überhaupt nicht geliebt habe! Ich zähle sie dir sofort auf, ich lasse keinen aus, das schwöre ich! Das war also zuerst einmal – nach der Geschichte mit dem Dingsda, dem Erich Fromm – nie wieder nennen wir seinen Namen, nein, ja? – also da war der Quentin in Kalifornien, ein sehr netter Kerl …«

»Hase, hör auf! Du wirst mir doch nicht in den ersten zwei Minuten eine Generalbeichte ablegen! Ich weiß ja nicht einmal, ob du mich überhaupt noch willst. Wenn nicht, kannst du dir das alles ersparen.«

»Ob ich dich noch will?« Der Hase machte sich wieder über Jakob her.

»Wenn einer … was zu beichten … hat«, brummte Jakob, sooft er Luft bekam, »…dann bin … ich … es …«

»Beichten? Deine Weiber? Daß ich nicht lache. Das weiß ich doch, wie du dich rumgetrieben hast!«

»Nein, ich fürchte, das weißt du nicht …«

»Doch weiß ich! In der ganzen Welt hast du Weiber gehabt! Hunderte! Tausende!«

»Na, also, das ist ja nun wieder mächtig übertrieben!«

»Ich kenne dich doch, Bär! Alle Bären sind gleich! Glaubst du, das macht mir was? Einen Dreck macht es mir! Du kannst doch keine so liebgehabt haben wie mich! Sonst wärst du nicht zu mir zurückgekommen – oder? Na also!«

Das wird aber wirklich peinlich, dachte Jakob. Der Hase ist offenbar nicht informiert über das, was sich ereignet hat. Daß ich mit dem Fahrrad und nicht mit einem Rolls samt Chauffeur gekommen bin, hat Julia in ihrer Aufregung nicht bemerkt. Also, das muß ich sofort in Ordnung bringen.

»Hör mal, Hase, du weißt nicht, wie es um mich steht!«

»Klar weiß ich es, Bär!« behauptete Julia, an seinem linken Ohrläppchen nagend. »Pleite bist du. Haben tust du nichts mehr! Nicht einen Tupf! Gerade das Fahrrad da und den schäbigen Koffer und was in dem drin ist! Alles andere haben dir die Banken weggenommen! Du bist genauso arm, wie du vor dreißig Jahren gewesen bist. Aber gerade das macht mich ja so besonders glücklich!«

»Daß ich pleite bin?«

»Ja!«

»Lieb von dir. Woher weißt du das denn überhaupt?«