»Das wissen doch alle! Das hat ja in allen Zeitungen gestanden! Im Radio haben sie es gesagt und im Fernsehen!«
»Ganz Theresienkron weiß es also? Na servas!«
»Ganz Österreich! Ganz Deutschland! Die ganze Welt!« Der Hase zog den Bären hastig mit sich. »Komm ins Haus! Da drüben stehen sie schon und starren uns an!«
Er folgte ihr stolpernd.
»Bist du allein hier?«
»Ja. Die liebe Frau Pröschl ist tot! Sie hat mir alles vererbt!« Jakob sah sich staunend um. Auch innen war das Haus neu hergerichtet, verändert, modern und glänzend vor Sauberkeit. »Du mußt ja einen Mordshunger haben! Wo kommst du her?«
»Aus dem Taunus.«
»Was?«
»Aber ich habe ja sechsmal übernachtet.«
»Trotzdem. Vom Taunus nach Theresienkron geradelt – du bist sicher todmüde!«
»Müde? Keine Spur! Hase, wofür hältst du mich? Für einen alten Kacker?«
»Niemals, Bärchen! Donnerwetter, vom Taunus bis hierher! Das soll dir erst mal einer nachmachen! Aber Hunger hast du – oder?«
»Na ja, also wenn du mich so fragst …«
»Geh da hinein, Bärchen. Ins Eßzimmer. Ich komme gleich.«
Julia stürzte davon.
Jakob betrat das Eßzimmer, das offenbar ebenfalls funkelnagelneu war. Er setzte sich und griff in die Tasche. Hasenpfote, ich danke dir, weil du gemacht hast, daß bisher alles so gut gegangen ist und Julia mich nicht gleich rausgeschmissen hat. Hasenpfote, liebe, bitte, mach jetzt auch, daß alles so gut weitergeht und nix passiert …
Tiefer und tiefer versank Jakob in sein Hasenpfotengebet. Es wurde ihm geradezu schwindlig von so viel Beterei.
Die Tür ging auf. Julia kam herein. Ihre Küchenschürze hatte sie abgenommen. Sie trug ein Tablett, das sie auf den großen Tisch stellte.
»So«, sagte Julia Martens strahlend.
Auf dem Tablett erblickte Jakob ein Glas und zwei Flaschen ›Preblauer‹. Ferner ein Stück Pappendeckel, auf das Julia in fliegender Hast mit Buntstiften ein großes Herz, einen Bären und einen Hasen sowie viele Blumen gezeichnet hatte, unter denen zu lesen stand: HERZLICH WILLKOMMEN IM HASENSTALL, GELIEBTER BÄR! Und dann – und jetzt traten Tränen in Jakobs Augen – stand da noch etwas: ein Teller und darauf ein, zwei, drei dick bestrichene Schmalzbrote!
2
»Don’t know why, there’s no sun in the sky! Stormy weather! Since my man and I ain’t together, it keeps raining all the time …«, ertönte die aufregend heisere Stimme der berühmten schwarzhäutigen amerikanischen Blues-Sängerin Lena Horne aus dem Lautsprecher eines Plattenspielers. Die Platte, die da auf dem Teller kreiste, war alt – mehr als dreißig Jahre alt, zerkratzt, verschrammt und total abgespielt. Man konnte Lena Horne kaum verstehen.
»Du hast immer noch ›Stormy weather‹?« sagte Jakob gerührt.
»Natürlich«, antwortete Julia. »Das ist doch unser Lied! Diese Platte habe ich in der ganzen Welt mit mir herumgeschleppt und sie mir immer wieder vorgespielt!«
»… Stormy weather! Just can’t keep my thoughts together …«
»Weißt du, Bärchen, also es ist eigentlich ein großes Glück, daß wir solange auseinandergekommen sind und uns erst jetzt wiedergefunden haben«, sagte der Hase. Das war am Morgen des nächsten Tages. Der Hase lag neben dem Bären im Bett und war ganz voller Seligkeit. Sie hatten es gerade ausgiebig hinter sich. Und der Plattenspieler stand neben dem Bett.
»Denn«, fuhr der Hase fort, »wenn wir zusammengeblieben wären, dann hättest du mich doch sicher auf Teufel komm raus betrogen, als du das viele Geld gehabt hast, und ich hätte mich revanchiert natürlich, und es wäre nie etwas aus uns beiden geworden. So aber, weil du mich verlassen hast, ist alles anders! Du hast dich ausgetobt, und jetzt bist du wieder bei mir! Allein wegen dieser Chinesischen Schlittenfahrt lohnt es sich, dreißig Jahre auf einen Mann zu warten! Das ist ja vielleicht was. Ich kann mich kaum noch bewegen!«
»Weil du aber auch gleich drei Fahrten nacheinander hast haben wollen«, erinnerte Jakob zärtlich.
»Na ja, wenn das doch so aufregend ist, Bärchen!«
»Man tut, was man kann«, sagte Jakob mit gespielter Bescheidenheit.
»Aber ich bin nicht einverstanden mit dem, was du da vorher gesagt hast.«
»Was habe ich vorher gesagt?« Julia streichelte ihren Jakob unablässig.
»Über unsere Trennung! Denk doch bloß an die Gefahren, in denen du geschwebt hast – sehr oft gewiß, ohne es überhaupt zu ahnen!«
»… since he went away, cold fear walked in to wreck me! If he stays away ol’ rockingchair will get me …«
»Was für Gefahren?«
»Hast du eine Ahnung, was für Gefahren es gibt in dieser Welt! Du mit deinen Weltreisen! Eine dunkle Nacht. Du bist allein. Vielleicht ein Ungewitter. Und wer kommt? Ein Irrer! Ein Frauenmörder! Ein Einbrecher genügt schon! Und du wachst auf, und bevor du noch schreien kannst …«
»Ich hätte gar nicht geschrien«, gab der Hase bekannt.
»Du hättest gar nicht …«
»Nein.«
»Sondern?«
Der Hase wandte Jakob den nackten Rücken zu, öffnete eine Nachttischschublade, entnahm ihr einen Gegenstand, bückte sich und sah dann Jakob an.
»Da! Schau dir das an!«
Jakob schaute sich ›das‹ an. ›Das‹ war eine Neun-Millimeter-Pistole der US Army. Riesengroß sah sie aus in der Hand des Hasen, der gelassen und kühl bis ins Hasenherz hinein sagte: »Wer immer gekommen wäre, Bärchen, er hätte keine Freude gehabt. Zuerst einmal hätte ich ihn in den Bauch geschossen und dann an die Decke. Das hat mir einmal ein Freund – ich habe ihn dir gebeichtet – Larry, der Kriminalkommissar in Sydney, dieser nette Kerl …«
»Jajaja«, sagte Jakob gereizt.
»Was bist du denn so gereizt? Ich habe gedacht, wir haben keine Geheimnisse voreinander! Du hast es überhaupt nötig mit deinem ›Jajaja‹! Was du Weiber gehabt hast!«
»Aber ich protze nicht mit ihnen!«
»Ich protze doch auch nicht, Bärchen! Ich wollte dir doch nur erzählen, was dieser Kriminalkommissar in Sydney mir geraten hat.«
»Was hat dieser Kriminalkommissar in Sydney dir denn geraten?«
»Immer zuerst totschießen so einen Kerl, der mich überfallen will – und dann in die Decke! Und dann nach der Polizei schreien. Und der hätte ich gesagt: Das ist der erste Schuß, meine Herren, der da in der Decke! Das war der Warnschuß, damit der Kerl sieht, ich meine es ernst, und bleibt stehen! Tja, er ist aber nicht stehengeblieben, sondern er ist weiter auf mich eingedrungen, und da habe ich dann eben in Selbstverteidigung einen zweiten Schuß abgeben müssen, und der hat ihn in den Bauch getroffen. Sowas ist absolut idiotensicher! Das glaubt einem jedes Gericht! Muß es! Denn keiner kann einem das Gegenteil beweisen!«
Jakob starrte die große Pistole fasziniert an.
»Wo hast du das Ding denn überhaupt her?«
»Weißt du denn nicht mehr, Jakob … Ach nein, das kannst du ja nicht wissen, da warst du ja schon fort! Also, wie der Misaras und der Jesus und der Mojshe Faynberg auch weggekommen sind vom Fliegerhorst Hörsching, da hat mir der gute Mojshe zuvor noch diesen Revolver …«
»Diese Pistole!«
»Unterbrich mich nicht, Bärchen. Also, diese Pistole hat mir der gute Mojshe noch gegeben und mir das Schießen beigebracht und mir sogar bei den Behörden einen Waffenschein besorgt! Ja, da staunst du, was? Damit mir nichts zustößt, hat der gute Mojshe das gemacht. Seither bin ich mit dem Ding da geschützt.«
»Gib her«, sagte er heiser, entriß dem entgeisterten Hasen die Waffe und rannte im Pyjama, auf bloßen Füßen, zur Tür. Die Tür führte in das Arbeitszimmer des Hasen.
»Bär!« schrie dieser entsetzt. »Bär! Was willst du mit dem Revolver? Was hast du vor? Bleib stehen! Ich dulde es nicht, daß du … Ich verbitte mir, daß du mit dem Revolver … Sofort gibst du den Revolver zurück!« Doch Jakob gab nichts zurück. Er war schon ins Nebenzimmer gerannt. Die Tür hinter ihm fiel zu.
Der Hase purzelte aus dem Bett.
»…cold fear walked in to wreck …«, konnte Lena Hornes Stimme gerade noch herausbringen. Dann bekam der Plattenspieler, der auf der Erde stand, versehentlich einen Fußtritt, die Nadel glitt kreischend über die ganze Platte, und der Apparat schaltete sich aus.