Die beiden Gorillas verloren den Kopf und flüchteten. Der fette Herr, noch nicht ganz bei Sinnen, stürzte sich auf Jakob, der eben wieder aufgestanden war, und begann wie von Sinnen auf ihn einzuschlagen, wobei ihm undruckbare Worte aus dem Munde flossen. Jakob schlug zurück. Heftig, weil gekränkt über solcherlei Vergeltung einer guten Tat. Die Herren gingen in den Clinch. Sie besorgten es einander ordentlich, bis der Fette plötzlich von seinem Tun abließ und entgeistert stammelte: »Ja … aa … kob?«
»Fra … a … anzl«, stammelte Jakob, genauso entgeistert.
Danach lagen sie einander in den Armen, und der Arnusch Franzl hatte Tränen in den Augen. Immerhin – die beiden kannten einander seit ihrer Schulzeit. Immerhin – der Freund hatte dem Freunde das Leben gerettet! »Wer waren denn die?« hatte Jakob gefragt.
»Schweine. Glauben, ich hab’ sie reingelegt. Haben mich entführen wollen«, hatte der Arnusch Franzl geantwortet. »Ich werde dir nie genug danken können. Komm weg jetzt, schnell. Mein Wagen steht in der Operngasse.«
Sie waren fortgerannt, dann war der Franzl zurückgeeilt und hatte den echten Smyrna geholt.
»Warum liegenlassen? Als ob wir’s zum Wegschmeißen hätten! Du kommst zu mir!«
»Ich komme …«
»Zu mir! Na was denn?« sagte der dicke Arnusch, während er zunächst den Smyrna und danach den abgerissenen, verhungerten Jakob in seinem ansehnlichen Wagen (amerikanisches Modell) verstaute und losbrauste. Jakob hatte kaum ein Wort herausbringen können. Erst jetzt, in der Wanne und unter dem Einfluß des ungewohnten Whiskeys, erholte er sich langsam.
»Franzl, um alles in der Welt, sag mir, wie du so ein Haus hast kriegen können! Doch nicht mit Schleich allein!« Franzl machte eine abschätzende Handbewegung. »Eben! Also wie dann? Unter uns können wir doch ganz offen sein!«
»Noch einen Schluck, Jakob?«
»Ich werd’ ja besoffen …«
»Ja und? In zwei Stunden kommen ein paar Katzen …« Franzl berührte mit drei Fingerspitzen die Lippen, um anzudeuten, daß es sich um ganz besonders hübsche Mädchen handelte. »Mir ergeben wie Sklavinnen. Kannst eine haben. Meinetwegen auch alle drei.«
»Eine gerne. Zu mehr bin ich zu kaputt. Auf dein Wohl, lieber Franzl!«
»Auf unser Wohl, lieber Jakob!« Die Aschenkrone der Zigarre wuchs. Der Franzl betrachtete zuerst sie und dann seinen Schulfreund wohlwollend.
»Red weiter!«
»Wieso weiter? Ich habe dich was gefragt! Wie kommst du zu so einer Villa und zu so einem Wagen? Du hast mit Ach und Krach die Matura gemacht. Ich nicht mal die. Aber du warst doch fast so blöd wie ich.« Der Whiskey machte sich bemerkbar. In Whiskey veritas. »Ein Angeber warst du auch. Und ein Spinner.«
»Aber ein schlauer Spinner, lieber Jakob, der gewußt hat, was er spinnt!«
»Das stimmt, lieber Franzl. Du hast so viele Drehs und Tricks gekannt wie keiner von uns. Du warst natürlich auch nicht beim Barras, was?«
»Ich war unabkömmlich in der Heimat.«
»Klar. Wo hast du dich denn rumgedrückt?«
»Beim Wiener Finanzgericht, lieber Jakob.«
»Finanz … ach so, klar! Geld, was? Dafür hast du dich schon immer interessiert, für Geld!«
»Da siehst du wieder einmal, wie es so geht im menschlichen Leben«, sagte der untersetzte, wohlgewandete Franz Arnusch. »Natürlich habe ich diese Villa und das alles hier nicht nur mit blödem Schleich gekriegt!«
»Sondern wie?«
»Sondern gescheiter! Transaktionen mit Geld! Diese Zeit jetzt, das ist eine Zeit, da kannst du die wildesten Sachen machen mit Geld. Devisen! Echte Dollars! Script Dollars! Francs! Pfunde! Was du willst. Na, und das tu ich. Ich helfe, wo ich kann. Und meine Partner sind mir eben dankbar.«
»Mit wem schiebst du denn, lieber Franzl?«
»Ach, weißt du, eigentlich mit allen. Sind mir alle gleich lieb und wert. Muß ja jeder sein Scherflein beitragen, jetzt. Furchtbar, was man diesen armen, unschuldigen Menschen in Österreich angetan hat.«
»Von wem hast du die Villa?«
»Von den Christlichen.«
»Auch den Wagen, die Anzüge, den Whiskey, alles?«
»Nein.«
»Von wem denn?«
»Von den Kommunisten.«
»Und wen hast du gewählt, bei der ersten Nachkriegswahl?«
Der Mann auf dem Klo zuckte die Achseln.
»Mich haben sie doch nicht wählen lassen.«
»Warum nicht, Franzl, mein Guter?«
»Na, weil ich doch ein Nazi war, Jakob, mein Bester!«
»Du bist schon eine Sau, Franzl, mein Guter.«
»Natürlich bin ich eine Sau, Jakob, mein Bester.«
»Aber du untertreibst! Du bist eine zu große Sau!«
»Das ist ja gerade das Feine, Jakob, mein Guter«, sagte Franzl. »Wenn man eine zu große Sau ist, dann hilft einem schon wieder der liebe Gott!«
23
Man kann sich an unheimlich viel erinnern in einer Sekunde.
Und Jakob Formann hätte sich noch an viel mehr erinnert, wenn in der zweiten Sekunde, nachdem er den mit Schokolade gefüllten Mund des erstarrten Franz Arnusch erblickt hatte, dieser ihm nicht heiser stöhnend entgegengestürzt wäre mit irrem Ausdruck im Gesicht. Jakob wich zur Seite. Wie eine Gewehrkugel schoß der Franzl den Gang des nun sehr schnell fahrenden, manchmal ruckenden Schlafwagenwaggons hinab und war verschwunden. Jakob sah ihm kopfschüttelnd nach, dann trat er in das Abteil und setzte sich seinerseits auf das Unterbett. Es wird schon was passieren, dachte er ohne Erregung, wie es seinem bereits mehrfach erwähnten Leckt-mich-am-Arsch-Standpunkt entsprach. Danach wurde er sogar ein wenig philosophisch. Das Ergebnis seiner Bemühungen auf diesem Gebiet läßt sich etwa in diese Worte kleiden: Manche Menschen sorgen dafür, daß etwas geschieht; manche Menschen sorgen dafür, daß nichts geschieht; manche Menschen sehen zu, wie etwas geschieht; und die überwältigende Mehrheit der Menschen hat keine Ahnung, was überhaupt geschehen ist. Zu der überwältigenden Mehrheit gehöre auch ich.
Was ist jetzt mit dem Franzl los? Hat er platterdings den Verstand verloren? Ist er imstande und stürzt sich bedenkenlos aus dem dahinrasenden ›Orient-Expreß‹ in den eisigen Schneesturm hinaus? Ich hänge doch sehr an ihm und habe ihn immer sehr bewundert. Weil er so gescheit ist. Er wird schon nicht. Aber wo ist er hin? Na, wir werden ja sehen …
Jakob lehnte sich im Unterbett zurück und gedachte wieder der Vergangenheit. Seine Erinnerungen waren das, was man dreißig Jahre später ›nostalgisch‹ nennen würde …
Damals, im November 1945 zu Wien, hatte sich der reiche Franzl des armen Jakob angenommen und ihm ein Zimmer in der großen schönen Villa, in welcher es nachts oft viel Krach gab (die Katzen!), zur Verfügung gestellt. Durch seine Beziehungen zu den Alliierten (der Franzl hatte zu allen Menschen Beziehungen!) wurde Jakob Dolmetscher in der Military Police Station an der Ecke Martinstraße und Währingerstraße. Auf dieser MP-Wache lernte er die Herren George Misaras, Jesus Washington Meyer und Mojshe Faynberg kennen. Hier wurden sie Freunde. Drei Monate später erhielten sie den Auftrag, nach Pötzleinsdorf zu fahren und den Franzl Arnusch auf Antrag der Wiener Staatsanwaltschaft zu verhaften. Er hatte es ein bißchen übertrieben.
Wahrlich keine angenehme Aufgabe für Jakob!
Er sagte es dem Franzl auch, als sie kamen, um ihn abzuholen. Da wieder eine Katzenparty im Schwange war, hatte der Franzl nur einen kleinen roten Slip an. Er bat, sich ankleiden zu dürfen. Die Bitte wurde ihm gewährt. Als sie dann mit ihm und Jakob auf dem Rücksitz des Jeeps und mit Mojshe am Steuer zum Untersuchungsgefängnis des Landesgerichts in der Lastenstraße (das ›Graue Haus‹ geheißen) rasten, stammelte Jakob unentwegt Entschuldigungen. Es war ihm wirklich scheußlich zumute! Ausgerechnet seinen Wohltäter brachte er jetzt hinter Gitter.
Franz Arnusch strich Jakob über das Haar, sprach tröstend auf den Gebrochenen ein, sagte, derselbe dürfe weiter in der Villa leben – jedenfalls in dem einen Zimmer, alles andere würde ja jetzt wohl abgeholt oder versiegelt werden –, und sprach mit Würde: »Der Gerechte muß viel leiden. Aber der Herr hilft ihm.« Wunderbarerweise wußte Franzl sogar die Bibelstelle, denn salbungsvoll schloß er: »Vierunddreißigster Psalm, Vers zwanzig.«