Der kleine Schwarzhändler, der das Geldzählen beendet hatte, fluchte laut: »Jetzt kann ich bei der Kälte zurück nach Giesing! Ich frier’ mir noch mal meinen Johnnie ab!«
»Warum müssen Sie denn auch um diese Zeit arbeiten?« forschte Jakob.
»Weil da die Polizei, mein Freund und Helfer, aufpaßt. Du hast ja keine Ahnung, was sich hier am Tag für kriminelle Elemente herumtreiben!« Der Kleine sprach mit einem östlichen Akzent.
»Bist du fromm?« fragte Jakob den Kleinen.
»Was soll die blöde Frage?«
»Ich auch nicht. Aber jetzt müssen wir es sein«, sagte Jakob. »Los, komm!« Und er ging schon voraus in Richtung auf die Caritas-Baracke.
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»Wollen wir noch eine pusten?« fragte Jakob eine Viertelstunde später, auf der Pritsche des Notfall-Kämmerchens liegend, wobei er sich wohlig streckte.
»Sehr freundlich!« Der Kleine nahm eine ›Chesterfield‹ aus der Packung, die Jakob ihm hinhielt.
1947 – Hunger und Hoffnung
4. Januar: DER SPIEGEL. Nr. 1.
März: Volksmund: Zusatzfrage zum Entnazifizierungs-Fragebogen: »Gedenken Sie im Jahr 1948 noch zu leben? Wenn ja – wovon?«
5. Juni: Marshallplan, ERP (bis 1951 an West-Europa 12,4 Milliarden $, davon an West-Deutschland 1,7 Milliarden $).
10. Juni: Durch »Gemeinsame Anordnung« der US- und der britischen Militärregierung wird die »Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes« (im Volksmund: Bizonesien) errichtet.
5. Juli: In Berlin wurde auf dem Schwarzen Markt ein Negerbaby gegen 8 Doppelzentner Zucker und laufende Lebensmittelzuteilung angeboten. Es war sofort »vergriffen«.
Juli: John Scott in »Time«: »Die Deutschen sind augenscheinlich nicht bereit, irgend etwas zu der Zukunft Europas beizutragen außer harten Worten und der Hoffnung, daß sie die amerikanisch-russischen Spannungen zu ihrem Vorteil ausnutzen können.«
Der britische Vize-Luftmarschall Champion de Crespigni, Gouverneur von Schleswig-Holstein: »50 Prozent der schleswig-holsteinischen Bevölkerung gehen einem langsamen Hungertod entgegen.«
18. August: Erste Exportmesse in Hannover.
31. Oktober: Die argentinische Regierung gibt bekannt, daß infolge wirtschaftlicher Schwierigkeiten landwirtschaftliche Erzeugnisse im Wert von 125 Millionen Sterling verbrannt werden müßten.
20. November: Zur Hochzeit der britischen Prinzessin Königin Elizabeth mit Philip Mountbatten schickt der Ortsausschuß Düsseldorf der Christlichen Arbeiterjugend als Geschenk die Tagesration eines Normalverbrauchers im Ruhrgebiet (300 g Brot, 5 g Fett, 12,5 g Fleisch, 2 g Käse, 40 g Nährmittel).
Enteignungen in der Sowjetzone: »Volkseigene Betriebe« (VEB).
Paul von Hindenburg, Generalfeldmarschall und Reichspräsident, wird entmilitarisiert, obwohl er bereits 1934 verstorben ist.
Thomas Mann: Martin Luther sei schuld daran, daß es Preußentum, Staatsvergottung und Nationalsozialismus gegeben habe, und Luther sei ihm außerdem wegen seiner Vorliebe für Musik unsympathisch.
Bertolt Brecht bestreitet in den USA bei einem Verhör über »unamerikanische Umtriebe«, jemals Kommunist gewesen zu sein.
Hans Werner Richter gründet die »Gruppe 47«.
»Du bist doch ein gebildeter Mensch, habe ich den Eindruck«, sagte Jakob. »Wie kann …«
»… ein so schönes Mädchen wie ich so tief sinken?« Der Kleine grunzte angeekelt. »Ich bin Flüchtling. Aus Gleiwitz. Mensch, ich hab’ vielleicht einen Rochus!«
»Auf wen?«
»Auf die deutsche Gerechtigkeit!« Die Wärme hatte den Kleinen munter werden lassen. Nach eigenem Bekunden hieß er Wenzel Prill, einunddreißig Jahre alt, alle Angehörigen umgekommen. Fast-Akademiker …
»… beim Ausbruch des Krieges mußte ich sofort an die Front. Dann wurde ich verwundet, am Schädel, und ich konnte studieren. Jura.«
Diese Erklärung entzückte Jakob bereits. Ein hochintelligenter Mann, dachte er. Genau der Typ, den ich jetzt brauche!
Das einzige, berichtete der hochintelligente Mann, was er aus dem großen Zusammenbruch im Osten bis nach München habe retten können, war eine Brieftasche gewesen. In der Brieftasche hatten sich zwanzigtausend RM befunden. Natürlich wurde ihm diese Brieftasche gestohlen …
»… hab’ ich Anzeige erstattet. Hab’ den Dieb beschreiben können. Bei einer Razzia in der Möhlstraße haben MPs den Dieb dann verhaftet. Die Möhlstraße – das ist das Schwarzmarktzentrum, weißt du?«
»Was?«
»Na, die Möhlstraße hier! Den Kerl haben sie eingelocht. Nackt ausgezogen. Alle Taschen durchsucht. Ihm hinten und vorn reingeschaut. Nix. Der Kerl hat die zwanzigtausend nicht mehr gehabt. Auch nicht die Brieftasche. Nur eine goldene Repetieruhr.«
»Na also!« Wenzel lachte hohl.
»Warum lachst du so dämlich, Wenzel?« fragte Jakob. »Die Uhr wird das Schwein vermutlich mit deinen zwanzigtausend Piepen gekauft haben.«
»Richtig.«
»Na also! Da war doch dein Vermögen wieder!«
»Habe ich auch gedacht. Ein braver Mensch, der Dieb, habe ich gedacht. Also wirklich. Er war sofort geständig. Da lag die Uhr. Schön, hab’ ich gedacht, werden sie mir also die Uhr geben. Aus Gold. Eine Repetieruhr. Die hat ›Üb immer Treu und Redlichkeit‹ gespielt. Da kann man auch eine Existenz damit aufziehen. Hab’ ich gedacht. Aber ich hab’ mich geirrt.«
»Wieso?«
»Der Fall ist vor ein deutsches Gericht gekommen. Die gibt’s schon wieder. Gerichte gibt’s in Deutschland immer. Der Herr Staatsanwalt hat eine flammende Rede gehalten. In’n Knast mit dem Dieb! hat er gefordert. Ganz meine Meinung! Ganz die Meinung vom Richter! Der hat dir den Dieb vielleicht verdonnert, Mensch!«
»Und du hast die Uhr gekriegt!«
Wenzel betrachtete Jakob wie ein Lehrer einen idiotischen Schüler.
»Hast wohl noch nie mit einem deutschen Gericht zu tun gehabt, eh?«
»Es hat sich noch nicht ergeben. Entschuldige.«
Wenzel akzeptierte die Antwort mit einem Kopfnicken und berichtete weiter. Die Uhr hatte er natürlich nicht zurückbekommen. Denn, so der Vorsitzende in der Urteilsbegründung mit rasiermesserscharfer Logik, es war dem Wenzel diese goldene Uhr ja auch nicht gestohlen worden. Gestohlen worden war ihm eine Brieftasche mit zwanzigtausend RM. Infolgedessen behielt das Hohe Gericht die goldene Uhr. Jemand mußte schließlich die Prozeßkosten bezahlen, nicht wahr? Und natürlich wurde der Wert der Uhr nach dem Preis von vor 1939 berechnet, nicht zum gegenwärtigen Schwarzmarktpreis. Ein deutsches Gericht treibt keinen Schwarzhandel, üb immer Treu und so weiter …
»… so war das, mein Junge!« schloß Wenzel seinen Bericht im Notfall-Kämmerchen der Caritas-Baracke. Er sah Jakob an. »Was ist mir übriggeblieben? Mein Studium hab’ ich nicht vollendet. Gelernt hab’ ich nichts. Also blieb nur der Schwarzmarkt, und da hab’ ich mich auf Kaffee geworfen. Was Besseres gibt’s nicht für einen wie mich.«
»Doch«, sagte Jakob.
»Was?« fragte Wenzel.
»Eier«, sagte Jakob. Und erzählte dem Kleinen ein wenig von seinen großen Plänen. Der war beeindruckt.
»Das klingt nicht schlecht, mein Junge.«
»Willst du mit mir zusammenarbeiten?«
»Halbe-halbe.«
»Nix halbe-halbe. Du kriegst genug, ich bin nicht kleinlich. Später gibt’s auch Gewinnbeteiligung. So einen Rechtsverdreher wie dich brauch’ ich jetzt.«
»Na schön. Du wirst aber auch noch andere Leute brauchen – wenn du viele Hühner hast. Da gibt’s einen Haufen zu malochen!«
»Weiß ich.«
»Und Geld! Und unser Geld ist doch nur noch der Dreck vom Dreck!«
»Unseres, ja. Dollars sind auch Dreck, eh?«
Dem Kleinen stand der Mund offen. »Hast du Dollars gesagt?«
»Hab’ ich gesagt«, antwortete Jakob und gedachte herzinniglich des Werwolfs, des Arnusch Franzl und des Geschäfts, das er mit ihnen vorhatte.
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»Dem Robert haben sie sein Fahrrad geklaut.«