»Nur die Pflicht, natürlich, das haben wir auch immer gesagt, als wir Soldaten waren. Mach dir nichts draus, buddy, zum Glück bist du noch vernünftig geworden, und also werde ich davon absehen, beim Gouverneur Anzeige gegen dich zu erstatten«, sagte Jakob.
»Danke … danke, Sir …«
»Die Fahrräder können wir doch hier … oder wird bei euch geklaut?«
»Ich werde die Fahrräder persönlich bewachen, Mister Formann!« versprach der Texaner, der weiche Knie bekommen hatte. In diesen wirren Zeiten sollte man wissen, who is who in Germany. Da laufen ja die Ministerpräsidenten wie Müllkutscher herum!
Drei Minuten später saßen Jakob und Wenzel dann dem dicken und jovialen Gouverneur Murray D. van Wagoner in dessen Büro gegenüber. Von der Wand hinter dem Militärgouverneur lächelte General Dwight Eisenhower auf die beiden herab, als wolle er sie segnen. Van Wagoner war über Jakobs Person in der Tat bereits informiert. Es freute ihn, die Bekanntschaft eines so außergewöhnlichen Mannes zu machen, sagte er.
»Ganz meinerseits, Governor!«
»Womit kann ich Ihnen helfen, meine Herren? Ich habe den Auftrag, Ihnen zu helfen. Es wird mir ein Vergnügen sein.«
Jakob räusperte sich. »Wir sind unterwegs zum Himmler-Hof, Governor. Nach Waldtrudering.«
»Haben Sie einen Wagen?«
»Fahrräder.«
»Bei diesem Schnee? Ich gebe Ihnen einen Wagen mit Fahrer …«
»Das wäre zu umständlich, Governor. Herzlichen Dank. Wir haben nämlich sehr viel zu tun jetzt, Ihr Fahrer könnte ermüden«, sagte Jakob, während er dachte: Das letzte, was wir bei unseren Geschäften jetzt brauchen können, ist ein amerikanischer Aufpasser! »Der Himmler-Hof genügt natürlich nicht. Der reicht nur, soviel ich von Professor Donner weiß, vielleicht für zwanzigtausend Hühner …«
»Und Sie brauchen weitere Niederlassungen!«
»So ist es, Governor. Sicherlich hat Ihnen das Wien und Berlin auch schon mitgeteilt …«
»Hat es, Mister Formann. Wir haben hier eine ganze Reihe stillgelegter Betriebe, die als ehemaliges Nazieigentum von uns verwaltet werden. In der ganzen Bi-Zone. Wenn Sie sich die Liste ansehen wollen … bitte … Nach den modernen Methoden braucht man ja keine Höfe mehr für Hühnerzucht, es genügen Fabrikhallen, nicht wahr?«
»Exakt, Governor.« Jakob und Wenzel betrachteten die Liste. Es war eine lange Liste.
»Und entschuldigen Sie bitte den Zwischenfall mit dem Posten am Tor«, sagte van Wagoner.
»Schon vergessen, Governor«, sprach Wenzel, fast so fließend englisch wie Jakob. »Rein formaljuristisch gesehen war der Mann absolut im Recht!« Er starrte auf die vielen Namen der Liste. »Mensch, das ist ja die halbe deutsche Industrie!«
»Ich denke, wir wollen unser Unternehmen zunächst nicht breit streuen, sondern an zwei, drei Stellen ballen«, sagte Jakob. »Hier, dieses Panzerwerk bei Bayreuth und diese Flugzeughallen bei Frankfurt erscheinen mir ausreichend. Sie sind sehr groß. Ohne Zweifel wird noch ein Teil der ehemaligen Belegschaft aufzutreiben sein – und außerdem gibt’s ja jede Menge von Flüchtlingen. Für vermehrte Kalorienzuteilung arbeitet heute jedermann liebend gerne in Deutschland.«
»Sie sind ein kluger Kopf, Mister Formann. Vergrößern können Sie sich noch immer.«
»Eben, nicht wahr?« Jakob nickte. »Bayreuth ist vom Flughafen Nürnberg aus leicht mit angebrüteten Eiern und Brutmaschinen zu beliefern, und bei Frankfurt liegt Ihr Rhein-Main-Flughafen. Besser kann man’s nicht haben.«
»Okie-dokie, Mister Formann. Dann werden wir – dieser Papierkrieg! – jetzt gleich entsprechende Verträge zwischen der Army und Ihnen – verzeihen Sie: zwischen Ihnen und der Army …«
»Aber ich bitte Sie, Governor!«
»… aufsetzen. Sie inspizieren die Gelände und teilen mir mit, wann Sie so weit sind, daß die Eier kommen können. Zusätzliche Lebensmittelkarten werden meine Ortskommandanten Ihnen auf Schreiben von mir bei den deutschen Dienststellen in Waldtrudering, Bayreuth und Frankfurt anfordern. Wenn sich irgendwelche Schwierigkeiten einstellen sollten, lassen Sie es mich sofort wissen.«
»Mit Vergnügen, Sir. Zwei Bitten. Erstens: Ich möchte, daß Mister Prill als mein Vertreter mit den gleichen Vollmachten ausgestattet wird wie ich. Ich werde vielleicht nicht immer anwesend sein, ich habe mich jetzt um so vieles zu kümmern, Sie verstehen?«
»Ich verstehe.«
Gott sei Dank verstehst du nicht, dachte Jakob und fuhr fort: »Zweitens: Könnten wir wohl in Ihrem PX einen Wintermantel für Mister Prill und Winterschuhe, Schals und Handschuhe für uns beide bekommen?«
»Werde ich sofort veranlassen. Donnerwetter, Mister Formann, Sie gehen aber ran!«
»Ich habe keine Minute zu verlieren, Sir«, sagte Jakob.
35
Kinder greinten, schrien und weinten. Frauen verfluchten diese Zeit und diese Welt, husteten und niesten in dem scheußlichen Gebäude. Die Menschen, die hier auf Jakob und Wenzel einredeten, sie beschworen, anbettelten und anflehten, waren abgemagert und dick vermummt mit elendem, altem Zeug, denn in Heinrich Himmlers einstmaligem Heim in Waldtrudering war es eiskalt. Beim Sprechen quoll allen der Atem in weißen Wolken aus den Mündern, Kindern und Frauen. Sehr junge, sehr alte sah Jakob – keinen Mann.
Nervös fingerte er an der alten, vertrockneten Hasenpfote, dem Geschenk seines Freundes Jesus Washington Meyer, in der rechten Hosentasche herum. Hier kann nicht einmal mehr die Wunderpfote helfen, dachte er verzweifelt. Verflucht, es ist einfach alles zu lange gutgegangen! So etwas hat ja kommen müssen! Da haben wir jetzt die Bescherung.
Im obersten Stockwerk schrie eine Frau von Zeit zu Zeit gellend. Ein Arzt war bei ihr. Sie bekam ein Kind. Ein Kind in dieser Zeit und an diesem Ort, dachte Jakob. Armes Kind. In was für eine Welt hinein wirst du geboren! Und wozu? Wärst du doch geblieben, wo du warst …
Jakob empfand ein jähes Gefühl des Zorns. Hätte der Kerl von dieser Frau nicht rechtzeitig bremsen können? Es gibt Millionen Flüchtlinge, dachte er, müssen ausgerechnet auch hier welche leben? Die Überlegung war nicht logisch, aber Jakob war im Moment nicht fähig, logisch zu denken, und was er dachte, entsprang, unter Umgehung des Kopfes, direkt seinem Herzen …
»Ruhe!« schrie er sehr laut, weil ihm sehr mies war. »Es genügt, wenn die Dame hier mir die Lage erklärt! Alle auf einmal kann ich nicht verstehen!«
Die Dame, auf die er mit dem Kinn wies, war eine etwa dreißigjährige Frau, deren Haar vollkommen weiß glänzte. Wie der Schnee draußen, dachte Jakob hilflos. Der Sturm hat aufgehört. Man muß für alles dankbar sein. »Diese Kinder, Mädchen, Frauen und Großmütter«, sagte indessen die Weißhaarige, »sind seit vielen Monaten auf der Flucht und auf dem Transport von einem Lager ins andere. Wie ich. Ich komme aus Ostpreußen. Andere Frauen auch. Dann gibt es welche aus Pommern, Mecklenburg, Thüringen, dem Sudetenland … Sie sind in vielen Lagern gewesen und immer wieder abgeschoben worden. Weil die Lager überfüllt waren. Weil sie geschlossen wurden, nachdem dort eine Epidemie ausgebrochen war. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß solche Menschen gerade zu Hunderttausenden kreuz und quer durch ganz Europa ziehen.«
»Nein«, sagte Jakob beklommen, »das brauchen Sie nicht, Frau …«
»Bernau. Ich war Lehrerin. Mein Mann ist gefallen, meine beiden Kinder sind verhungert. Ich habe Glück gehabt. Ich muß nur noch für mich selber sorgen. Aber da gibt es Frauen mit fünf, sechs und mehr Angehörigen hier … Wirklich, es tut mir leid, Herr Formann.«