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»Was?«

»Sie haben mir so schöne Papiere von den Amis gezeigt, daß Sie berechtigt sind, den Himmler-Hof zu übernehmen – und jetzt finden Sie uns vor.« Die Gebärende schrie wieder. »Natürlich werden wir den Anordnungen der Militärregierung folgen und weiterziehen. Von diesem verkommenen Hof zu einem verkommenen andern. Gott wird uns helfen.«

»Ich will mich ja nicht einmischen«, sagte Wenzel und tat es, »aber ausgerechnet auf den würde ich mich nicht so verlassen in Ihrer Situation!«

»Gott schuf diese Erde …«, begann die Lehrerin.

»Ja, ja, ja«, unterbrach sie Wenzel. »Ich hab’ auch die Bibel gelesen, Frau Bernau. Gott schuf diese Erde in sieben Tagen, und siehe, er fand sehr gut, was er gemacht hatte. Vielleicht hätt’ er sich aber doch ein paar Tage mehr Zeit lassen und eine weniger gute Meinung von seinem Job haben sollen … Schauen Sie mich nicht so an. Für den Mantel kann ich nichts! Den haben mir die Amis geschenkt!«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, sagte die Lehrerin. »Aber lästern brauchen Sie auch nicht. Haben Sie keine Angst, daß hier jemand Widerstand leistet und nicht gehen will. Von uns hat keine mehr auch nur einen Funken Kraft, Widerstand zu leisten. Es wird nur eine kleine Weile dauern, bis wir verschwunden sind.«

»Wovon leben Sie?« fragte Jakob. »Ich meine: Was essen Sie?«

»Wenig«, sagte die Lehrerin. »Das, was wir von den Bauern erbetteln, und das, was uns die Amis geben. Die Bauern geben fast nichts, weil wir nichts mehr haben, was wir ihnen geben könnten. Sie kommen aus München?«

»Ja. Mit dem Fahrrad.«

»Das ist doch mächtig weit! Und bei dem Wetter.«

»Ein Vergnügen war es auch nicht gerade, Frau Bernau«, sagte Wenzel. Die Gebärende schrie.

»Komm, Wenzel«, sagte Jakob. Der starrte ihn an. »Hast du nicht gehört?«

»Doch. Aber dann geht das ja nicht, was wir machen wollten.«

»Es geht auch nicht, daß wir alle diese Frauen und Kinder verjagen. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, wir werden übernachten müssen irgendwo.«

»Wo willst du hin?«

»Zum Tegernsee.«

»Herrjeses!« Wenzel fuhr zurück. »Der Mann hat den Verstand verloren! Tegernsee? Weißt du, wo das ist?« Jakob nickte freundlich. »Aber warum willst du dahin?«

»Das sage ich dir nachher«, erwiderte Jakob. Es war plötzlich sehr still in dem scheußlichen Gebäude. Dann entstand ein Raunen, ein Rufen, frohes Gelächter. Eine der Frauen sagte der nächsten etwas. Zuletzt hatte es Frau Bernau gehört. Die lächelte.

»Mir ist was eingefallen«, sagte Jakob indessen zu Wenzel. »Weißt du, ich habe ein Gedächtnis wie ein Elefant. Und während dieser Rederei habe ich mich an etwas erinnert … Warum lächeln Sie, Frau Bernau?«

»Die Schwangere oben …«

»Was ist mit ihr?«

»Sie hat ein Mädchen zur Welt gebracht, eben. Das Kind braucht nie Soldat zu werden. Ist das nicht wunderbar?«

»Ist das nicht was?« fragte Jakob.

»Sei ruhig«, sagte Wenzel. »Unsere herzlichsten Glückwünsche der Mutter und Ihnen allen hier. Ich hoffe, Sie hören bald wieder von uns. Und Gutes! Auf Wiedersehen, Frau Bernau.«

»Auf Wiedersehen, meine Herren. Und Gott segne Sie!«

»Ja«, murmelte Jakob, der schon die Haustür aufmachte und in den Schnee hinausstapfte, »wäre schön, wenn Gott das jetzt tun würde.«

Auf der Straße blieb er plötzlich stehen und schüttelte den Kopf. »Was hast du?« fragte Wenzel.

»Glücklich«, sagte Jakob. »Hast du das gehört? Die sind alle so glücklich da drinnen, weil ein Kind geboren worden ist. Jetzt und hier. Glücklich! Mensch, man ist doch nicht schon deshalb glücklich, weil man nicht vergast worden ist wie Frau Kohn!«

»Du siehst das falsch, Jakob. Paß mal auf: In unserem ganzen Denken ist ein Fehler drin, aber der ist grundsätzlich: Die Menschen leben nicht nach der Ratio …«

»Nach der wie bitte?«

»Nach der Ratio. Weißt natürlich nicht, was Ratio heißt.«

»Nicht frech werden, Klugscheißer. Schließlich bin ich ja nicht in der Baumschule gewesen. Ratio heißt …«

»Ratio heißt Vernunft. Wir Menschen leben nicht nach der Vernunft, nicht so, wie wir wirklich glücklich sein könnten, ohne Kriege und Elend und all das. Und ich will dir mal sagen, was ich glaube.«

»Na was denn?«

»Ich glaube, tief in uns drin da ist etwas, das macht, daß wir gar nicht wirklich glücklich sein wollen! Beim Barras habe ich einen Koch gekannt, der hat es später bis zum Jagdschein gebracht, bis zum Paragraphen einundfünfzig, ein toller Kerl, der hat immer gesagt: Glück ist überhaupt nur kommunistische Propaganda!«

»Ja, so was fällt nicht jedem ein«, sagte Jakob und schwang sich aufs Rad.

»Los, vorwärts, zum Tegernsee! Mit den Rädern ist das ein Klacks!«

»Verflucht, aber was willst du am Tegernsee?«

»Sehen, ob’s die noch gibt.«

»Wen?«

»Die Nibelungentreue«, sagte Jakob und strampelte schon los.

36

»Na also, er hat uns gesegnet, der liebe Gott«, sagte Jakob spät an diesem Abend zu Wenzel. Sie lagen unter ein paar Pferdedecken, die sie gestohlen hatten, im Heu eines Schobers, dessen Tor sie aufgebrochen hatten, und ein jeder von ihnen aß einen Kanten Brot und ein großes Stück Wurst dazu. Brot und Wurst waren auf die gleiche Weise in ihren Besitz gekommen wie die Pferdedecken. Sie waren am Tegernsee gewesen. Den Rückweg nach München schafften sie nicht mehr. »Bist du sehr müde?«

»Ach wo«, sagte Wenzel mit mildem Sarkasmus, »nur die Füß’ tun mir a bissl weh.«

»Du mußt eben regelmäßig Freiübungen machen wie ich«, sagte Jakob, an dem jede Art von Sarkasmus verschwendet war. »Ich fühl’ mich ganz frisch.«

»Das freut mich aber, Jakob.«

»Schon gut, Wenzel.«

»Also, jetzt weißt du, daß es die ›Nibelungentreue‹ noch gibt. Zufrieden?«

»Sehr.«

»Wieso sehr? In dem Kasten sitzen doch ein Haufen Kerle drin, hast du selber gesehen! Auch ein Name für so ein Schlößchen – ›Nibelungentreue‹!«

»Weil du nicht weißt, daß der ehemalige Besitzer dieses Gehöfts der Herr Reichshauptstellenleiter Baldur Niemcewicz gewesen ist.«

»Wie heißt der Kerl?«

»Baldur Niemcewicz.«

»Ach so. Ja, ja. Uraltes Germanengeschlecht.«

»Eben. So ein Name verpflichtet. Wenzel! Ich hab’ dir doch gesagt, ich hab’ ein Gedächtnis wie ein Elefant. In irgend so einer Nazizeitschrift im Krieg war diese ›Nibelungentreue‹ einmal abgebildet. Innen und außen. Mensch, innen hättest du das sehen müssen! Was der Niemcewicz sich da zusammengeklaut hat an Gobelins und Gemälden und Möbeln! So was hatte zu repräsentieren, Wenzel, kapier es endlich. Ein Reichshauptstellenleiter, das war nicht so ein Dreck, wie du und ich es sind, der hat was darstellen und Kultur zeigen müssen und Penunze haben natürlich!«

»Vielleicht auch Schmuck, hä?« murmelte Wenzel in tragischer Erinnerung an die Repetieruhr aus Gold, die ihm gestohlen worden war, von einem Ganoven und von einem Richter.

»Da kannst du Gift drauf nehmen, Wenzel, daß der Reichshauptstellenleiter sich auch mit Schmuck eingedeckt hat. Den hat er natürlich mitgenommen, wie er dann abgehauen ist. Das andere Zeug vermutlich nicht. Das war ihm zu groß und sperrig.«

»Wo der jetzt wohl sein mag?«

»Südamerika, Argentinien, schätze ich. Da sind die meisten hin, als das Dritte Reich hopsgegangen ist – wenn sie noch konnten.«

»Mensch, der Baldur Niemcewicz hat vielleicht ein Massel gehabt! Unsereins …« Wenzel begann plötzlich unflätig zu fluchen.

»Warum fluchst du so unflätig, Wenzel?« forschte Jakob, nachdem er dem anderen Zeit gelassen hatte.

»Wär’ ich bloß bei meinem Kaffeehandel geblieben! Aber nein, ich Trottel muß mich ja mit dir zusammenschmeißen, weil du so riesenhafte Pläne hast und so feine Papiere von den Amis!«

»Du sollst nicht so reden, Wenzel«, sagte Jakob, in den Zähnen bohrend, wo sich ein Stück Wurst verklemmt hatte. »Wenn du mit mir arbeitest, mußt du dir jede Menge Ausdauer anschaffen und dich nicht gleich vom ersten Fehlschlag umschmeißen lassen. Schau, ein Beispieclass="underline" Beim Barras, da hab’ ich auch einmal versucht, den Simulanten zu spielen, damit ich aus dem größten Dreck raus und in ein Lazarett komme.«