6. August 1945: Die erste amerikanische Atombombe vernichtet die japanische Hafenstadt Hiroshima.
Von dem Schweizer Arzt und Philosophen Max Picard erscheint das Buch »Hitler in uns selbst«.
Am 6. Oktober 1945 kommt in München die Nummer 1 der »Süddeutschen Zeitung« heraus. Die Druckplatten sind aus dem eingeschmolzenen Bleisatz für Adolf Hitlers »Mein Kampf« gegossen. Aus der Nr. 1 der »Neuen Zeitung« (18. Oktober 1945): Erich Engel hat soeben die Münchner Kammerspiele mit »Macbeth« eröffnet. – Dort spielt auch das Kabarett »Die Schaubude« (mit Texten von Erich Kästner). – Im Ballsaal der Münchner Residenz werden gezeigt: Goldonis »Kaffeehaus«. Lessings »Nathan« und Anouilhs »Antigone«.
20. November 1945 bis 1. Oktober 1946: Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher, 12 Todesurteile (vollstreckt am 16. Oktober 1946).
Eine bebende Männerstimme drang an Jakobs Ohr: »Hier ist Colonel Hobson!«
Auch noch dieser Kretin, dachte Jakob und erwiderte in lässigster Haltung, den militärischen Schneid lediglich in der Stimme: »Yessir?«
»Goddammit, endlich! Kommen Sie sofort zu mir in den Tower! Grauenhafte Sauerei hier! Brauche jemanden, der Deutsch und Englisch spricht!«
»Ich komme, Sir«, sagte Jakob, legte den Hörer behutsam nieder und machte sich ohne jede Hast auf den Weg. Seine hervorragenden Englischkenntnisse verdankte er dem Umstand, daß er viele Jahre in England zugebracht hatte; dort vertrat sein Vater eine Wiener Fabrik, die sich mit dem Bau von Holzverarbeitungsmaschinen beschäftigte.
Es dämmerte bereits ziemlich stark. Jakob trug eine blaugefärbte amerikanische Armeehose, ein ebenso behandeltes Armeehemd und ein Armeejackett. Dazu eine Armeekrawatte und einen grüngestrichenen Armeeplastikhelm mit den großen weißen Buchstaben C und G (für Civilian Guard, also Ziviler Wachdienst). Armeestiefel besaß er nicht. Die Fußbekleidung, die er trug, hatte er in einem winzigen tschechischen Ort, Mukulow, ganz nahe der österreichischen Grenze, gestohlen, und weil der Diebstahl schon längere Zeit zurücklag, befanden die Schuhe sich in einem erbärmlichen Zustand.
Die ›Flying Fortress‹ donnerte wieder über den Platz hinweg.
Jakob erreichte die komfortable MP-Baracke und öffnete die Eingangstür, um drei Herren zu sagen, daß etwas faul und er gerufen worden war. MPs und Civilian Guards arbeiteten hier rund um die Uhr, in einem Achtstundenturnus. Die gleichen MPs verlangten stets die gleichen Civilian Guards, und so hatte sich Jakob herzlich befreundet mit drei jungen Männern etwa seines Alters und exakt seines eingangs erwähnten Grundsatzstandpunktes. Es handelte sich um den Master-Sergeant George Misaras (Eltern aus Marghita, Rumänien, in die Vereinigten Staaten eingewandert), um den Gefreiten Mojshe Faynberg, einen bleichen, dicken Jungen mit rotem Haar, Sohn eines Flickschusters aus New Yorks Bronx, und um den Sergeanten Jesus Washington Meyer aus dem Staate Alabama und daselbst aus der Stadt Tuscaloosa. Diese drei jungen Männer hatten den D-Day, die Invasion am Abschnitt ›Omaha Beach‹ der Normandieküste, mitgemacht und sich durch halb Europa gekämpft – ebenso ungern, wie Jakob in den großen Hitlerkrieg gezogen war, um in Rußland zu überleben.
George Misaras saß hinter einem pompösen Schreibtisch (hinter dem vor zwei Jährchen noch ein Gauleiter gesessen hatte), die Schuhe auf der Tischplatte, als Jakob hereinkam. Er hatte sich durch Lektüre eines Comic-Strip-Heftchens fortgebildet. Jesus Washington Meyer und Mojshe Faynberg waren damit beschäftigt, ein neues Pin-up-Foto von Jane Russel an einer Wand zu befestigen, an der schon viele andere Pin-up-Fotos, etwa von Rita Hayworth, Lana Turner oder Betty Grable, prangten.
»Was is’ los, Jake?« fragte Misaras. »Kalt? Willst ’n Schluck heißen Kaffee?«
»Mann, hat die ein Paar Augen! Nein, danke, George«, sagte Jakob.
»Howard Hughes«, sagte Mojshe, Reißzwecken zwischen den Lippen.
»Howard wer?«
»Hughes! Aus rostfreiem Stahl! Komplizierte Konstruktion!«
»Was?«
»Der Beha von der Tante! Ins Kleid gearbeitet. Raffiniert, wie? Hat dieser Howard Hughes eigens für die Jane Russel erfunden. Der erfindet dauernd was. Is’ Multimillionär. Hätte es nicht nötig.«
»Der Colonel hat mich gerade angerufen. Ich soll rauf in den Tower kommen, übersetzen.«
»Was übersetzen?« fragte der riesenhafte Neger Jesus Washington Meyer.
»Keine Ahnung. Bloß: Es ist jetzt niemand beim Eingang.«
»Na und? Ist es dein Airfield?« Mojshe zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich hängt’s mit diesem Drecksbomber zusammen, der da über uns rumkurvt.«
»Kann schon sein. Nur: Warum kurvt er? Trouble, sage ich euch!«
»Diese Arschlöcher von Piloten machen mich noch wahnsinnig«, sagte Jesus. »Scheiß auf das ganze Air Corps!«
»Ja, das ist leicht gesagt«, murmelte Mojshe versonnen.
2
»Verrückt!« kreischte Colonel Peter Milhouse Hobson hysterisch, knallrot im Gesicht, die Arme hochwerfend, im obersten Stockwerk des Towers, zwischen drei Soldaten, die vor ihren Radargeräten und Sprechfunkanlagen arbeiteten, hin und her rennend. »Ich werde verrückt, verrückt, verrückt!«
Zwei der drei Fluglotsen wiesen gleichfalls Zeichen psychischer Störungen auf. Sie bellten in ihre Mikrofone, stotterten und fluchten, und viele ihrer Angaben zur Sicherung des umliegenden amerikanischen Luftraums waren falsch. Die beiden sind schon geschafft, dachte Jakob. Der dritte ist es nicht. Der dritte Lotse saß entspannt auf seinem Drehstuhl und blies Kinderkaugummi rhythmisch zu Blasen auf. Als er Jakob sah, kniff er ein Auge zu. Nanu, dachte Jakob, ein Warmer? Ach nein, sicherlich nur ein normaler Mensch.
Im Tower lief stets ein Tonband, das auch mit den Telefonleitungen verbunden war. Dieses Band zeichnete alle Gespräche auf für den Fall, daß es zu Unstimmigkeiten, Ungenauigkeiten oder, Gott behüte, einem Unglück kam. Kam es, Gott behüte, zu einem Unglück und gab es dabei, Gott behüte, Verletzte oder gar Tote, so konnte man mit Hilfe des Tonbands jederzeit feststellen, wer woran Schuld trug. Eine äußerst praktische Anlage. Die Luftwaffe der Vereinigten Staaten, der wir an dieser Stelle unseren tiefempfundenen Dank aussprechen, hat uns aus ihren Archiven jenes exemplarische Band zur Verfügung gestellt, das am frühen Abend des 3. November 1946 gerade lief.
Ton ab! Band läuft.
»Rufen Hörsching Tower … Hier ist Flug Eins-acht-eins …«
»Ich verstehe Sie, Eins-acht-eins. Was gibt’s?«
»Was sollen diese ewigen Warteschleifen, Hörsching Tower? Wir haben hier schon alle den Drehwurm!«
»Nur noch ein Weilchen, Eins-acht-eins. Wir haben jetzt einen Dolmetscher hier. Es wird sich gleich alles klären. Over!«
»Gleich klären? Wissen Sie, was Sie mich können, Hörsching Tower? Sie können …«
»Kein Wort weiter, Eins-acht-eins! Machen Sie sich nicht unglücklich! Colonel Hobson steht neben mir. Hört jedes Wort. Er bringt Sie vors Kriegsgericht!«
»Kriegsgericht, ha! Ich habe in diesem Scheißkrieg zweiunddreißig Tageseinsätze über deutschen Städten geflogen und lebe noch immer! Glauben Sie, ich habe vor Ihrem Colonel Angst?«
»Und ich war über Monte Cassino und über Saint Lô und habe vierzig Einsätze überlebt! Glauben Sie, Sie können sich mit mir anlegen, Captain? Sie bleiben auf tausend Meter und drehen noch zehn Minuten Ihre Runden. Over! … Was suchen denn Sie hier?« Die letzten Sätze hatte Colonel Hobson gesprochen.
»Sie haben mich rufen lassen, Sir.«
»Ich Sie? Niemals!«
»Aber ja doch, Sir. Wegen des Bombers, Sir. Ich bin Civilian Guard Jakob Formann!«
»Ach so. Entschuldigen Sie, Formann. Hahaha! Ist gar kein Bomber!«
»Sir, das ist eine ›Fliegende Festung‹! Ich bin lange genug hier, um …«
»Das ist eine umgebaute ›Fliegende Festung‹. Eine als Transporter umgebaute! Verstanden?«