Aber kein Wetterkundler, so beschlagen, so instinktsicher er auch war, konnte den Himmel immer richtig einschätzen, und bei den Britischen Inseln mit ihren unsteten Winden, die jederzeit die Richtung ändern konnten, grenzte eine Trefferquote von fünfundachtzig Prozent schon an ein Wunder.
Kris’ frühherbstliche Depressionen verstärkten sich von Tag zu Tag, und so nahm ich seine Einladung, mit ihm zu einem Sonntagsessen nach Newmarket zu fliegen, eigentlich nur an, damit er wieder ein fröhlicheres Gesicht machte. Unser Gastgeber, versicherte mir Kris, sei auf mindestens zwanzig Gäste eingestellt, einer mehr werde also die Planung nicht über den Haufen werfen.»Und außerdem«, setzte er mit dem üblichen leichten Sarkasmus hinzu,»ist dein Gesicht dein Kapital, ob du willst oder nicht. Caspar wird von den Socken sein.«
«Caspar?«
«Caspar Harvey, er gibt das Essen.«
«Oh.«
Caspar Harvey war nicht nur einer der reichsten Farmer, die Kris kannte, sondern ihm gehörten auch drei oder vier Rennpferde, deren übernervöser Trainer mir von montags bis sonntags in den Ohren lag. Trainer Oliver Quigley, vom Temperament her ungeeignet für ein stressiges Leben, erst recht aber für den nervenzerrenden Alltag des Rennzirkus, erstarrte in Ehrfurcht vor Caspar Harvey, eine alles andere als günstige Grundlage für die Beziehung zwischen Besitzer und Trainer.
Ich kannte sie beide noch nicht persönlich und hatte auch wenig Lust, sie kennenzulernen, aber bis der Sonntag kam, stieß ich immer wieder auf Verweise wie» Caspar Harvey, die Säule des Rennsports «oder» Caspar Harveys Schlußspurt auf der Liste der siegreichen Besitzer «oder» Caspar Harvey zahlt bei den Jährlingsverkäufen mehrere Millionen Pfund für Derby-Hoffnungen«, und in dem Maße, wie meine Neugier und mein Wissen zunahmen, wuchs mein Verständnis für Quigleys schwache Nerven.
In der Woche vor dem Lunch bei Caspar Harvey machte ich die beiden wichtigsten Wetteransagen, jeden Abend um halb sieben und halb zehn, das hieß, ich berechnete täglich den wahrscheinlichen Weg der Luftmassen und gab meine Einschätzung zur Hauptsendezeit vor den Kameras bekannt. Viele Leute nahmen an, daß Wetterfrösche wie Kris und ich lediglich von Dritten geschriebene Berichte vortrugen, und waren überrascht, wenn wir erklärten, daß die Vorhersagen von uns selbst stammten. Erst wenn wir die Meldungen ferner Wetterstationen ausgewertet und mit Kollegen erörtert hatten, gingen wir >live<, ohne Skript und normalerweise allein in das winzige Studio, um die computergefertigten Wetterkartensymbole an der Karte von Großbritannien zu kommentieren.
Insgesamt gab es über zweihundert Wetterstationen auf den Britischen Inseln, deren Angaben über den örtlichen Luftdruck, die Windrichtung und die Windstärke einem großen Zentralrechner zugeführt wurden, der im Wetteramt in Bracknell bei Ascot westlich von London stand. Dieser Rechner empfing Daten aus der ganzen Welt, und man konnte ihm alles entnehmen, was in den nächsten achtundvierzig Stunden voraussichtlich an der Weltwetterfront passierte. Ganz sicher war jedoch nichts davon, und bei plötzlich nachlassendem Hochdruck konnten Polarwinde durchkommen, die unsere freudigen Erwartungen zu wenig überzeugenden Erklärungen gefrieren ließen.
Der Sonntag der Lunchparty bei Caspar Harvey Ende September begann jedoch hell und klar mit einem kalten Wind von Ost, Bedingungen, die den ganzen Tag vorhalten würden, so daß die Farmer in East Anglia ihre spätreife Gerste einfahren konnten.»Ideales Flugwetter«, meinte Kris.
Kris’ Flieger, eine einmotorige Piper Cherokee mit tiefliegenden Tragflächen, war ungefähr dreißig Jahre alt. Er machte keinen Hehl daraus, daß er bereits der vierte Besitzer war; der dritte war ein Flugverein gewesen, der die Maschine mitunter sechs Stunden am Tag beansprucht hatte, was auch Kris nicht so gut fand, die Altersflecken der rissigen Sitze störten ihn hingegen wenig.
Meine erste Reaktion auf das Uraltgeschoß vor ein paar Jahren war:»Nein danke, ich bleib lieber mal unten«, aber im echowerfenden Hangar seines Flugplatzes hatte mich Kris mit einem Mechaniker bekannt gemacht, der über den Zusammenhang zwischen losen Schrauben und plötzlichem Tod Bescheid wußte. Auf die Versicherung des Mechanikers hin, daß die Piper trotz ihres Alters bis zur letzten Niete flugtauglich sei, hatte ich mein Leben in Kris’ Hände gelegt.
Kris entpuppte sich dann als erstaunlich sicherer Pilot. Ich hatte befürchtet, er sei in der Luft so leichtfertig wie in seinem Verhalten allgemein, aber am Steuer war er konzentriert und zuverlässig, und hinterher schwebte er nicht höher als eine Radiosonde.
Viele Kollegen fanden den Umgang mit Kris schwierig und fragten mich verwundert, wie ich damit zurechtkam, daß er offensichtlich meine Gesellschaft suchte. Meistens antwortete ich wahrheitsgemäß, daß mir seine etwas schrägen Ansichten gefielen, und ließ unerwähnt, daß er während seiner Stimmungstiefs so selbstverständlich über Selbstmord redete, als ginge es um die Auswahl der Krawatte für das 8-Uhr-Wetter.
Nur Rücksicht auf seine Eltern, besonders auf seinen Vater, hielt ihn davon ab, sich wirklich vor einen Zug zu werfen (sein bevorzugter Abgang), und ich nahm an, sein Selbsthaß war schwächer und sein Wille zum Durchhalten stärker als bei Leuten, die dem Todeswunsch nachgaben.
Zur Zeit von Caspar Harveys Lunchparty hatte Kris Iron-side die makabren Neigungen einer Reihe junger Frauen überlebt, die von der Idee des Selbstmordes vorübergehend fasziniert waren, und hielt es nicht mehr für ausgeschlossen, vielleicht doch ein mittleres Alter zu erreichen.
Kris war schlank, hochgewachsen und sah auffallend gut aus, mit klugen, hellblauen Augen, dichten blonden Stachelhaaren, denen kein Friseur beikam, einem kräftigen blonden Schnurrbart und — besonders auf dem Bildschirm — einem nur angedeuteten Lächeln, das niemandem erlaubte, an seinen Worten zu zweifeln.
Er hatte sein aeronautisches Prachtstück auf dem Flugplatz von White Waltham stehen, gab einen Großteil seines Einkommens dafür hin und erklärte jedem, der ihm zuhörte, daß es als fit haltendes Herztonikum jeglichem Aerobic haushoch überlegen sei; und er begrüßte mich in White Waltham mit der aufgekratzten Freude, die ich aus Erfahrung kannte. Seine an den Zapfsäulen stehende Cherokee nahm Treibstoff auf, der so explosiv war wie er selbst, und beide Tragflächentanks wurden bis zum Rand gefüllt, um jedes bißchen Kondenswasser zu verdrängen, das sich beim Abkühlen der Maschine nach dem vorigen Flug gebildet haben konnte.
Statt der Schutzbrille und des weißen Schals der Piloten alter Schule trug Kris einen Norwegerpullover über einem dicken karierten Wollhemd. Er musterte meine dunkle Hose, das weiße Hemd, die blaue Jacke und nickte beifällig; meine biedere Erscheinung erlaubte es ihm gewissermaßen, zum Ausgleich den Exzentriker herauszukehren.
Er tankte fertig, überzeugte sich, daß die Verschlußkappen fest aufgeschraubt waren, und nachdem wir den weißen Flieger dann ein Stück von den Zapfsäulen weggeschoben hatten (kleines Zugeständnis an andere, die tanken mußten), ging er systematisch um die ganze Maschine herum, sagte sich seine Checkliste vor und berührte dabei die einzelnen wichtigen Teile. Wie üblich klappte er abschließend die beiden Hälften der Motorhaube auf, um sicherzugehen, daß der Mechaniker keinen Lappen im Getriebe zurückgelassen hatte (wie käme er dazu!), und wischte den Meßstab ab, bevor er ihn wieder in die Wanne tauchte und sich vergewisserte, daß der Ölstand ausreichte, um den Motor gleitfähig zu halten. Wenn es ans Fliegen ging, kannte Kris keinen Leichtsinn.
War er dann an Bord und hatte links vorn (auf dem Pilotensitz) Platz genommen, führte er dort ebenso gewissenhaft die letzten Checks durch —»Schalter okay?«und so weiter —, warf schließlich den Motor an und konzentrierte sich auf die Instrumente.