Wir waren allein im Auge. Zwischen blauem Himmel und blauem Meer hatte niemand sonst teil an dieser seltsamen kreiselnden Welt.
«Stadioneffekt«, bemerkte Kris fröhlich.
Ich nickte. Stadioneffekt hieß, daß das Auge oben weiter war als unten über der Wasserfläche; wie ein Stadion eben.
Die wirbelnde Wolkenwand mit den fürchterlichen Winden rings um das stille Zentrum sah undurchdringlich aus. Zu der goldenen Sonne im Innern vorzustoßen war gut und schön, aber jetzt mußten wir an den Rückflug denken. Kris zog wieder die Karte mit den Steuerkursen hervor, räumte aber selbst ein, daß Nummer vier jetzt nicht mehr stimmte.
«Gib du ihn mir«, sagte er.»Das kriegst du hin.«
Wir hatten gar nicht erst versucht, uns an das Flugschema professioneller Hurrikanflieger zu halten, nämlich drei Flüge direkt durchs Auge auf zehntausend Fuß. Wir waren wirklich auf uns allein gestellt.
Ich rechnete aus, daß wir bei nördlichem Kurs auf Land treffen würden, wenn nicht auf Cayman, ein doch recht kleines Ziel, dann auf Jamaika oder, als letzter Ausweg,
Kuba. Zeit und Treibstoff hatten wir genug, um so weit zu kommen, und mit ein wenig Glück hatten wir bis dahin längst wieder Funkverbindung und konnten uns führen lassen. Peinlich, aber besser als abstürzen.
Kris war mit dem Nordkurs einverstanden, wollte aber in östlicher Richtung in die Wolkenwand einfliegen, da die gegen den Uhrzeigersinn drehenden, dort besonders starken Winde uns wohl ohnehin nach Norden tragen würden, bis wir vielleicht hundert Kilometer weiter waren und den äußeren Rand des Hurrikans erreichten.
Die zweite Windspitze eines Hurrikans am Boden kommt, wenn das Auge vorbeigezogen ist und die Illusion erzeugt hat, daß der Sturm vorüber sei. Die zweite Windspitze eines Hurrikans schlägt von Südwesten zu wie eine rollende Betonwand und vernichtet alles, was dem ersten Ansturm widerstanden hat.
Die zweite Windspitze eines Hurrikans Kategorie 5 heult und kreischt und ist schneller als ein Tennis-As ein As servieren kann. Sie bringt Sturzbäche, Sturzseen schlammlösenden Regens. Sie bringt Obdachlosigkeit und Elend und reißt Brücken ein — und um nach Grand Cayman zurückzukehren, mußten wir noch einmal durch den tobenden Sturm.
«Wie hoch sind wir?«fragte Kris. Seine Stimme klang nervös, sein Blick war beunruhigt. Normalerweise rechnet man einfach, daß der Luftdruck alle zehn Meter um ein Millibar fällt — aber mit der Höhe nimmt auch die geistige Konzentration ab, und Kris und ich konnten in der rüttelnden, lärmenden Holterdipolterwelt um uns herum nicht mehr allzu klar denken.
Kris steuerte nach Osten und nahm bei achttausend Fuß auf dem Höhenmesser entschlossen Kurs auf Land. Wir waren beide sicher, daß wir die Abdrift unterschätzt hatten und daß uns die rotierende Windspirale trotz der voll aufgedrehten Motoren überallhin blies, nur nicht, wohin wir wollten.
Vom blauen Himmel war nichts mehr zu sehen. Die See brodelte und raste, grau und braun.
Wolken und Regen hüllten uns ein. Wir waren blind und konnten nicht feststellen, wie wir vorankamen. Kris versuchte es gar nicht mehr. Er war geistig weggetreten.
Minutenlang war ich fest davon überzeugt, daß Kris und ich und das Flugzeug hier überfordert waren. Die Vorahnungen meiner Großmutter machten mir Gänsehaut. Kris, der sichtlich den Mut verlor, rief wiederholt:»Mayday, Mayday, Mayday «in das Mikrofon, ein Hilferuf über Funk, den niemand hörte.
Trotzdem hätten wir es noch schaffen können, wenn wir auf dem nördlichen Kurs geblieben wären und wenn nichts dazwischengekommen wäre, aber von einer Sekunde zur nächsten, katastrophenschnell, stürzte ein simpler mechanischer Vorgang uns ins Chaos, in das ungestüme Reich der Dämonen.
Das rechte Triebwerk fiel aus.
Sofort kam die ganze Maschine aus dem Gleichgewicht, kippte seitlich ab, drehte sich im Kreis, reckte die Nase, senkte sie wieder. Kris rief:»Volles Gegenruder, Steuerknüppel vor, volles Gegenruder«, wobei er das linke Pedal durchtrat, und mir fiel ein, daß man mit» Steuerknüppel vor, volles Gegenruder «eine einmotorige Maschine abfängt, wenn sie trudelt, aber ich wußte nicht, ob das gestörte Gleichgewicht eines einseitig streikenden zweimotorigen Flugzeugs davon besser oder schlimmer wurde. Ich suchte noch einmal Funkkontakt, um Kris’ Stimme auszusenden, und hörte nur sehr schwaches Spanisch.
Raum und Zeit gerieten durcheinander. Wir konnten nur noch einen Gedanken auf einmal fassen. Meine kreisten um das Schlauchboot, das hinter mir in der Passagierkabine lag, denn da Flugzeuge nicht auf dem Wasser treiben, war ich überzeugt, daß wir es brauchen würden.
Irgendwie bekam ich in der schlingernden Kiste das dicke Bündel zu fassen, packte es und hielt es fest, während die Maschine kaum noch zu lenken war und Kris, der immer noch wie wild am Steuerknüppel zerrte, wieder anfing zu rufen:»Mayday, Mayday, Steuerknüppel vor, volles Gegenruder… Mayday…«, und dann, verzweifelt:»Ich flieg zurück nach Trox. Zurück nach Trox.«
Auch wenn er sinnlos drauflosplapperte, behielt er das bockende, drehende, rüttelnde Flugzeug doch halbwegs unter Kontrolle, das gegen seinen Willen aus achttausend Fuß Höhe jetzt schnell zu Tal ging, und erst als ich ihm zuschrie, er solle sich zum Abspringen bereit machen, schien ihm bewußt zu werden, daß wir mit nur einem überhitzten Triebwerk in diesem Sturm auf verlorenem Posten kämpften. Er konnte die sich überschlagenden Wellen sehen, aber er hätte dennoch das Unausweichliche geleugnet. wäre nicht Meerwasser gegen die Windschutzscheibe geklatscht.
Mit einem Aufschrei des Entsetzens griff er steiffingrig nach den Schaltern und zog die Nase schräg hoch, während Triebwerk und Propeller auf der Backbordseite noch auf vollen Touren liefen, und irgendwie erwischten wir das Wasser bäuchlings auf einer furchterregend großen, anrollenden Welle. Beim ersten Aufprall sprang die Piper zurück in die Luft, drehte sich heftig nach links und senkte die Nase. Der zweite Schlag war stärker, und mit der eigentümlichen Logik, die in Notsituationen den Verstand führt, dachte ich auf einmal an eine vor langer Zeit gehörte Prüfungsfrage, bei der es um das geeignetste Material für Sicherheitsgurte ging, die sich dehnen und Bewegungsenergie auffangen mußten, um den Benutzer bei einer plötzlichen Kollision vor Schaden zu bewahren. Als sich das Flugzeug in die beinah senkrechte Wand der nächsten hohen, schaumgekrönten Welle bohrte, erfüllten unsere Sicherheitsgurte ihren Zweck und fingen unsere Energie auf, daß es durch Mark und Bein ging.
Fast noch im Moment des Aufpralls stieß ich die Hecktür auf und sprang in das tosende Wasser, hielt um des lieben Überlebens willen das Dinghy umklammert und zog an der Leine, um es aufzublasen. Schon blähte es sich gewaltig und entfaltete sich mit einem Schwung, der es mir aus den Händen riß bis auf das außen herumführende Tau, die Rettungsleine für über Bord Gegangene. Für ganz kurze Zeit hielt ich es noch fest, aber in dem heulenden Sturm war jedwede Kraft, die ich zu haben meinte, eine Farce, und mit Grausen erkannte ich, daß ich es nicht würde halten können, bis Kris sich losgeschnallt und das sinkende Schiff verlassen hatte.
Er kam dann aber sehr schnell vorn heraus, sprang glücklicherweise zuerst mit einem Fuß auf die bereits überflutete Tragfläche und fiel dann direkt in das beinah vollständig aufgeblasene Dinghy, als es mir aus den Händen glitt. Wind und Wellen erfaßten das sich ausdehnende Boot und trugen es im Nu von dem sinkenden Flugzeug fort, und einen Moment lang sah ich Kris’ von Schrecken erfülltes Gesicht noch zu mir herüberschauen. Dann trennten uns Wolken und Regen gewaltsam und machten uns füreinander unsichtbar, und nur wenig länger konnte ich das mit Wasser vollgelaufene Flugzeug sehen, bevor es mit hochstehender Tragfläche rasch und für immer in den Fluten versank.
Ohne viel Hoffnung zog ich an den Leinen der Schwimmweste, die meine alleinige Überlebenschance darstellte, und daß sich die Weste prompt mit Luft füllte wie vorgesehen, schien mir wirklich der einzige kleine Strohhalm zu sein, an den ich mich klammern konnte, aber mehr auch nicht.