Meine Schuhe schwammen weg, und ich zog meine Hose aus, so daß ich nur Unterhosen, Hemd und die leuchtendorange Schwimmweste am Leib trug. Das relativ warme Wasser der Karibik konnte mich zwar hin und her werfen, aber an Unterkühlung sterben würde ich nicht. Es gab tröstliche Geschichten von verschollenen Seeleuten, die nach Tagen auf See noch lebend aufgegriffen wurden. Das war gut zu wissen, dachte ich, auch wenn sie nicht mit hurrikanhohen Wellen zu kämpfen gehabt hatten.
Es war Tag, und meine wassergetränkte Uhr war um 14.15 Uhr stehengeblieben, bei unserem Absturz ins Meer. Zu Hause hatte ich eine billige wasserdichte Armbanduhr zum Schwimmen: Hätte ich die bloß mitgenommen. Alberner Gedanke. Im Meer war die Zeit ohne Bedeutung.
Aber wenn Kris und ich nicht wieder auf dem Flughafen von Cayman auftauchten, würde Robin Darcy uns bestimmt suchen lassen. Kris’ Dinghy war meilenweit zu sehen, und meine Rettungsweste mochte zwar nur ein kleiner Tupfer im Ozean sein, war dafür aber leuchtfarben. Bloß nicht daran denken, daß bei diesem Wolkenbruch, diesen Wellenbergen kein Hubschrauber auf Schwimmwestensuche gehen würde.
Odin war ein langsam ziehender Hurrikan, aber auch die langsamen gingen irgendwann vorbei. Um zu überleben, mußte ich zunächst Odin durchstehen und dann zu entdecken sein, und am besten wäre ich zu entdecken auf einer der gängigen karibischen Luftverkehrsrouten.
Die Gedanken kamen langsam, und keiner war erfreulich. Unangenehm zum Beispiel dieser: Das karibische Meer war sehr groß. Oder, anderes Beispiel, anderer Gedanke: Bist zwar ein geübter Surfer, hast aber erstens kein Brett dabei, und zweitens war bei zehn Meter hohen Sturmwellen wahrscheinlich auch mit Surfbrett nichts zu wollen.
Außerstande, einen konstruktiven Entschluß zu fassen, kämpfte ich lediglich darum, mich und meinen wirren Kopf über Wasser zu halten. Die Schwimmweste war gottlob so beschaffen, daß ihr Kragen das Kinn des Trägers ab stützte und ihn, selbst wenn er von einem turmhohen Brecher erfaßt wurde, wie einen vollgesaugten Korken langsam wieder nach oben brachte.
Man konnte Salzwasser schlucken und krampfhaft nach Luft schnappen. Man konnte sich immer wieder an die windgepeitschte Oberfläche strampeln und sich dort eine Weile halten, etwas zu Atem kommen, aber wenn der Spätnachmittag in Dunkelheit übergegangen war, konnte man im unaufhörlichen Ansturm der tosenden Wellen allmählich das Gefühl bekommen, daß mit einer Rettung oder auch nur vorübergehenden Erleichterung nicht mehr zu rechnen war.
Man konnte ins Delirium fallen, und man konnte ertrinken.
Kapitel 5
Lange nachdem ich aufgehört hatte, in irgendeiner Weise zusammenhängend zu denken oder mich darüber zu wundern, daß immer mal wieder meine Großmutter silbern umglänzt ein Stück von mir entfernt auf den Wellen schwamm, lange nachdem das Trugbild von Robin und Kris, die mich händchenhaltend durchs Wasser zu sich winkten, um mir eine Kugel zu verpassen, verschwunden war, packte mich in dem brüllenden, unmenschlichen Furor Odins, dem das bißchen Leben, das noch in meinen Herzkammern und meinem Hirn pulsierte, nicht entfliehen konnte, eine ungeheure Welle, hob mich in die Luft und warf die Stoffpuppe, zu der ich geworden war, gegen eine noch ungleich höhere Wand.
Die Wand war nicht aus Wasser… sie war Fels. Kein Grund zur Freude erst mal, sie schlug mich bewußtlos.
Geraume Zeit später merkte ich dann, daß ich mein Leben der Felswand neben dem Landungssteg verdankte, an dem früher die Schiffe festgemacht hatten, die Trox mit lebensnotwendigen Gütern versorgten.
Zottige Sträucher und steckenartige junge Bäume sprossen dort unverdrossen aus Spalten und Vorsprüngen, und zwischen ihnen, die mich jetzt an die unebene, rauhe Felswand gedrückt hielten, war ich liegengeblieben.
Langsam kam ich wieder zur Besinnung, und zuerst schien es mir ganz natürlich, im zweiten wirren Anlauf dann aber um so unnatürlicher, daß ich wußte, wo ich war.
Die Erkenntnis ging nicht mit dem Wunsch oder mit der Kraft einher, etwas zu unternehmen. Ich drehte mich ein wenig, um die Landungsbrücke entlangzuschauen, und sah, daß es mehr als die Hälfte der aus schwerem Bauholz gezimmerten, in Beton verankerten Anlage weggerissen hatte, als wäre sie aus Pappe.
Das Bewußtsein verlor sich wieder in einem unruhigen, von bösen Träumen erfüllten Zustand äußerster Erschöpfung, der Schlaf und Benommenheit zugleich war.
Jahrhunderte später quasi merkte ich, daß es regnete und daß es schon regnete, seit ich meine vom Salzwasser verquollenen Augen geöffnet hatte. Der Regen wusch das Salz von meinen Gliedern, aber meine ganze Haut war vom zu langen Aufenthalt im Meer verschrumpelt, und wie nur je ein alter Seemann sah ich zwar Wasser, Wasser überall, hatte aber einen schmerzhaft brennenden, vom Salz verursachten Durst.
Regen… gierig nach jedem Tropfen sperrte ich den Mund auf. Das kühlte die Kehle, beruhigte den Geist. Ich begriff, daß meine Großmutter nicht wirklich da im Silberglanze schwamm. Robin Darcys Kanone befand sich am Sand Dollar Beach, zur Abschreckung von Einbrechern.
Schwach blieb ich dennoch und wäre gern liegengeblieben. Andererseits lag ich auf halber Höhe einer niedrigen Felswand, zwischen Wurzelwerk, das sich im Dauerregen zu lockern begann — und wie aufs Stichwort rissen einige der Sträucher aus ihrer Verankerung und schickten mich auf eine holprige Rutschpartie bergab, bis ich mit ungezählten Schrammen auf dem harten Belag des Piers landete.
Zum Glück war der ramponierte Pier ursprünglich als Anlegeplatz für Handelsschiffe gebaut worden, so daß er über dem Hochwasser lag. Braune, ruppige Brecher fegten jetzt bedrohlich an der Mauer entlang, aber nur wenige schwappten breit darüber hinweg, als suchten sie etwas, das sie noch an sich reißen könnten. Die Höhe und die Gewalt der Wellen, die mich hierherbefördert hatten, waren um fast die Hälfte zurückgegangen. Bei dieser Brandung hätte etwas so Massives wie der Pier nicht verwüstet werden können.
Also blieb ich noch ein wenig im Regen liegen und dachte an Kris und das Auge Odins, und der ganze Tag kam mir unwirklich vor.
Der ganze Tag… das Licht war grau… aber es war nicht Nacht, und es war Nacht gewesen, als ich mit dem Ertrinken gekämpft hatte.
Gestern, dachte ich ungläubig. Kris und ich waren gestern hierhergekommen… und ich hatte die ganze Nacht in dem schwarzen Wasser verbracht, und die Umrisse der Felswand, gegen die ich geschleudert worden war, hatte ich gesehen, weil die müde alte Erde sich da langsam der Dämmerung des neuen Tages entgegendrehte.
Nach und nach wurde mir auf dem zertrümmerten Pier bewußt, daß es am Tag davor nicht so beschädigt gewesen war. Daraus konnte ich nur schließen, daß die verheerenden Winde Odins über die Insel gefegt waren, nachdem wir sie verlassen hatten, aber ein Handlungsbedarf ergab sich für mich daraus nicht. Bald, sagte ich mir, bald würde ich den Berg hinauf in das kleine Dorf gehen. Bald würde ich das Leben wieder anpacken. Ich hatte mich wahrhaftig noch nie so schwach gefühlt.
Wie um meine Lebensgeister anzufachen, hörte der Dauerregen plötzlich auf.
Als allererstes machte ich mich daran, die Gurte der Schwimmweste zu lösen, mit dem Erfolg, daß ich sie nur in noch schlimmeren Knoten verhedderte. Sie aufzukriegen dauerte eine Ewigkeit. Meine Arme schmerzten gräßlich.
Ich hatte immer noch kein Gefühl für die Zeit. Hell war Tag, dunkel Nacht. Als das Tageslicht wieder nachließ, riß ich mich dann doch zusammen, kam mit viel, viel Mühe auf die Beine und stapfte ganz langsam barfuß vom Meer hinauf zu dem Dorf, das in ungefähr siebzig Metern Höhe auf dem Felsen lag. Sturmfluten fegen vielleicht keine so hoch gelegenen Ansiedlungen weg, aber Sturmwinde kennen da keine Hemmungen. Das kleine Dorf vom Vortag, die Häuser, die Kirche und die Pilzschuppen waren über den Haufen geweht worden.