Nichts geschah. Kein Klicken, kein verheißungsvolles Piepen. Segelohren-Angus taugte nicht als Schlüssel zum Öffnen der Tür, und natürlich gab es auch keinen Grund, warum er das hätte tun sollen.
Da ich sonst wenig mit der Zeit anzufangen wußte, überquerte ich den ehemaligen Dorfplatz und sah mir noch einmal das verwüstete Innere des Bunkers an, in dem ich einen Teil der Nacht verbracht hatte.
Wozu brauchte eine Pilzfarm einen Bau mit meterdicken Wänden und hurrikansicherem Dach? Brauchte sie nicht, war die einfache Antwort; bei einer Wetter- oder Erdbebenstation machte das eher Sinn. Bei der Räumung der Insel waren die Instrumente und Unterlagen natürlich mitgenommen worden, aber ein Gebäude, in dem etwa ein Seismograph zur Messung weit entfernter Erdstöße aufgestellt war, mußte in sich äußerst stabil gebaut sein. Der Betonboden, nahm ich an, war dann mindestens so dick wie die Wände.
Wieder draußen, sah ich in den klaren blauen Himmel und lauschte dem zurückgehenden Rauschen der Wellen, aber was ich eigentlich brauchte, war ein Suchflugzeug, und danach schaute ich vergebens.
Evelyn lag jetzt vielleicht am Sand Dollar Beach in der Sonne und fragte sich, wo Kris und Perry abgeblieben waren. Aber irgendwo tobte Odin noch, und so konnte es auch sein, daß Evelyn in die Berge des bergarmen Florida geflohen war.
Die Gedanken tröpfelten dahin. Bei Robin wurden Logiergäste, die morgens um drei badeten, von bewaffneten Polizeikommandos umstellt, und der Wachdienst rief an, ob alles in Ordnung sei.»Ja«, hatte Robin leichthin gesagt,»jawohl, Hereford.«
Ich stand auf Trox und betrachtete ein braun-weiß geschecktes Rind, ein Hereford. Und wenn nun Robins Hereford für den Wachdienst in Sand Dollar Beach so etwas wie ein Kennwort war? Hereford… Hereford… alles in Ordnung.
Warum nicht?
Menschen benutzen ein und dasselbe Kennwort in den verschiedensten Zusammenhängen, weil ein einziges Kennwort leichter zu behalten ist als viele.
Ich hatte immer noch alle Zeit der Welt und spielte einfach herum. Ich stellte mich wieder vor die Tresortür, drückte 4373 (here) und 3673 (ford) auf dem Tastenfeld, und prompt kam ein lautes Klicken.
Verblüfft ergriff ich die flache Klinke, und als ich versuchte, sie anzuheben, drehte sie sich ohne weiteres, und leise schwang die Tür auf.
Schätze waren nicht dahinter, zumindest nicht auf den ersten Blick. Zwei Dinge lagen in dem stoffbezogenen Fach des grauen Stahlsafes. Das eine war ein gelber Kasten, offenbar ein elektronisches Meßgerät mit Skala und Zeiger sowie einem kurzen Metallstab an einem wie eine Telefonschnur geringelten Kabel. Der Kasten sah mir ganz nach einem Geigerzähler aus, und als ich ihn herausnahm und den Ein-Aus-Schalter drückte, gab ein bedächtiges, unregelmäßiges Ticken mir recht. Ein Geigerzähler, der nicht viel zu zählen hatte. Technisch gesprochen zählen Geigerzähler Elementarteilchen, die beim Zerfall radioaktiver Stoffe freiwerden. Der Stab enthält ein sogenanntes Zählrohr, das vor langer Zeit von den Physikern Geiger und Müller erfunden wurde. Gelangt ein Teilchen in das Rohr, ionisiert das Gas im Innern, so daß es leitfähig wird und Stromstöße erzeugt, die wiederum das Ticken hervorrufen.
Außer dem Geigerzähler lag nur noch ein gelbbrauner Hefter in dem Versteck, wie er überall auf der Welt zur Aktenablage verwendet wird.
Der Hefter enthielt, wie sich zeigte, zwanzig Blatt Papier in fast zwanzig verschiedenen Formaten: Briefe mit und ohne Briefkopf, und alle in fremden Sprachen, von denen ich kaum eine kannte. Auf fast jeder Seite standen aber unabhängig von der Sprache Zahlen- und Buchstabenkombinationen, die ich zweifelsfrei erkannte und die mir angst machten. Einige Bogen waren paarweise zusammengeheftet, und zwei schienen Adressenlisten zu sein, auch wenn ich sie nicht lesen konnte, da sie in einer Schrift abgefaßt waren, die wie arabisch aussah.
Ich legte den Hefter wieder in den Tresor, ließ die Tür aber offen und ging nachdenklich wieder hinaus in die Sonne. Die Rinder drehten die Köpfe nach mir. Einige muhten, und noch ein paar mehr ließen platschende, dampfende Fladen fallen. Als Nachmittagsunterhaltung war das nicht gerade umwerfend.
Wie sich zeigte, hatte ich noch vier Aufnahmen auf meinem Film. So entschloß ich mich, doch ein Foto von den Rindern zu machen, und suchte mir dafür eine Gruppe mit möglichst vielen verschiedenen Rassen aus. Dann kehrte ich zu dem Tresor zurück, um zu entscheiden, welche drei Blätter aus dem Hefter am ehesten verewigt zu werden verdienten.
Die Wahl fiel auch bei ihrer sorgfältigen Durchsicht im Hellen nicht leicht, aber schließlich suchte ich vier heraus, fotografierte zwei davon einzeln und die beiden anderen zusammen. Nach der letzten Aufnahme war der Film alle, und zu meinem Verdruß blockierte der Rücklauf an der Stelle, wo ich den Schlamm abgewischt hatte. Unmöglich zu sagen, ob überhaupt noch brauchbare Bilder darauf waren, aber wenn nicht, schien mir das auch kein so herber Verlust. Damit jedoch die Kamera nicht noch mehr Regen abbekam, hängte ich sie ganz oben an einen Balken in der Nähe des Tresors, unerreichbar für die Kühe.
Als ich die Schriftstücke wieder in den Hefter und den Hefter wieder in den Tresor tat, überlegte ich, ob ich alles so hinterlassen sollte, wie ich es vorgefunden hatte, und entschied mich dafür — hauptsächlich, um die Papiere vor den Kühen zu schützen, denn einige waren mir so neugierig gefolgt, daß sie sich in der Tür drängten und versuchten, sich mit ihren dicken Köpfen hereinzuzwängen. Ich scheuchte sie zwar zurück, war aber auch irgendwie froh über ihre Gesellschaft, denn ohne sie wäre es doch einsamer gewesen.
Der Tag nahm kein Ende, und niemand kam.
Zwölf Stunden Dunkelheit. Dann erst wieder Morgen.
Ich schlief unruhig, mit vielen Unterbrechungen, und mein einziger Trost, als ich schließlich im Morgengrauen aufwachte, war, daß ich im Schein der untergehenden Sonne eine Suppendose zwischen den Trümmern eines der Häuser hatte blinken sehen; verbeult und mit Dreck gefüllt zwar, aber doch besser zum Milchtopf geeignet als die Kameratasche.
Die Kühe hatten mir Abendbrot und ein zeitiges Frühstück gegeben, um danach geschlossen zur Landebahn zu ziehen, deren Gras sie sowohl düngten als auch kurz hielten.
Als die Sonne aufging, war es drei Tage her, daß Kris und ich von Grand Cayman losgeflogen waren.
Hatte das Auge des Hurrikans Odin sich drei Tage lang mit zehn Stundenkilometern nach Nordwesten bewegt, dann überzog er jetzt vielleicht gerade die Küsten von Cayman mit Sturmböen und Flutwellen. Unter diesen Umständen durfte man kaum erwarten, daß jemand nach tollkühnen Fliegern suchen kam, die mit ziemlicher Sicherheit ins Meer gestürzt waren.
Ich baute mir aus Balken einen primitiven Sitz zusammen, der im Schatten liegen würde, wenn die Sonne am höchsten stand, und ließ mich dort nieder, um meine immer noch nackten Füße auszuruhen. Meine Knöchel juckten entsetzlich von Kratzern, Schrammen und Insektenstichen, die nicht heilen wollten. Den lieben langen Morgen haderte ich mit meinem Schicksal, wollte nicht glauben, daß ich noch lange hier aushalten mußte, und konnte mich deshalb nicht aufraffen, irgend etwas zu tun, um meine Inselzeit erträglicher zu gestalten.
Ich dachte an meine Großmutter, die sich, hätte sie Bescheid gewußt, vielleicht um ihren vermißten Enkel gesorgt hätte, bestimmt aber mit bündigen guten Ratschlägen bei der Hand gewesen wäre wie:»Perry, bau dir ein Haus, filter dir Trinkwasser, bastel dir Sandalen, such dir Kokosnüsse, führ Tagebuch, blas keine Trübsal.«
Sie hatte sich nie beklagt, weder als ihre Gehbehinderung anfing noch später. Mir hatte sie immer nahegelegt, alles, was sich nicht ändern ließ, möglichst mit Anstand zu ertragen, und zu dem Unabänderlichen zählte sie auch den Verlust meines Vaters und meiner Mutter.
Von meinem Durchhänger auf Trox hätte sie wenig gehalten. Über Mittag saß sie im Geist bei mir im Schatten, gerecht, aber streng. Insofern war es meine Großmutter, die mich, Schuhe hin, Schuhe her, am Nachmittag dazu trieb, ans andere Ende der Rollbahn zu laufen, und dort entdeckte ich einen Weg zu einem weißen Sandstrand und ging schwimmen, wobei ich in meinem geschwächten Zustand zwar mit der immer noch schweren, rauhen Brandung zu kämpfen hatte, aber hinterher fühlte ich mich sauber und erfrischt.